- wie ein Statist im falschen Film
Berlin, 26.03.2020, 09:01

Aus dem Fenster blickend genieße ich die warme Sonne auf meinem Gesicht. Ich bleibe eine Weile einfach bloß stehen und denke an nichts, nehme die Ruhe ganz bewusst wahr, die Stille, die Zeit, die ich nun habe. Ich bemerke, dass sich in einem der beiden Töpfe auf meinem Fensterbrett wieder etwas regt: Drei leuchtend grüne dünne Stängel mit ein paar kleineren und größeren Basilikumblättern, die zusammen drei majestätische Kronen bilden. Stolz blicken sie mir entgegen. Ich lächle und freue mich. Sobald ein Kräutertopf leer ist, werfe ich ihn für gewöhnlich weg und kaufe den nächsten – es dauert gefühlt ewig bis da was nachwächst und so ein Topf kostet vielleicht 99 Cent, nicht wahr?
Doch dieses Mal wandert weder der Basilikum- noch der Petersilientopf in die Mülltonne, bloß weil sie mir scheinbar nichts mehr zu bieten haben. Es braucht lediglich etwas Geduld, Sonne und Wasser und tada – so einfach geht das – jetzt wächst wieder etwas.
Ich bin überrascht und gerührt zugleich, wie sehr ich mich darüber freue.
Normalerweise gehe ich fast täglich einkaufen. Nach der Arbeit kaufe ich die paar Dinge ein, die ich brauche oder auf die ich Lust habe, am nächsten Tag werde ich sicher wieder auf etwas anderes Lust haben – warum also einen Groß(Hamster)einkauf machen und mehrere schwere vollbebackte Taschen nach Hause schleppen?
Doch jetzt gehe ich ungern täglich einkaufen – ich gehe ja nicht mal mehr zur Arbeit und meinen letzten Besuch im Supermarkt werde ich möglicherweise nie wieder vergessen. Vielleicht würde ich meinen Kindern oder Enkelkindern davon erzählen. Es ist nicht so, dass etwas besonders Schlimmes passiert ist – es passieren weitaus schlimmere Dinge auf der Welt…
Doch mein letzter Supermarktbesuch war seltsam, einzigartig, traurig, erschreckend, beschämend, verwunderlich, einfach komisch – mir fällt kein passendes Wort dazu ein und mir fällt fast immer das passende Wort ein…

Vor ein paar Tagen hatte ich mich am frühen Abend auf den Weg gemacht, weil ich genau drei Dinge haben wollte: Süßkartoffeln, eine Avocado und Bioeier. Doch nur ein erster kurzer Blick in den Supermarkt und mir dämmerte, dass ich zumindest zwei von drei Dingen an diesem Abend nicht bekommen würde. Die Obst- und Gemüseabteilung war komplett leergefegt. Ungläubig hatte ich mich umgesehen, einige andere Kunden schienen dasselbe zu tun. Wachsam hatte ich meinen Blick durch die leeren Kisten und Regale schweifen lassen, mehrmals hatte ich meine Runde gedreht und versucht, zwischen all den leeren Kisten noch etwas Brauchbares zu entdecken. Keine Süßkartoffeln, auch keine normalen Kartoffeln, keine Avocado, kein Broccoli, keine Möhren, kein Kohlrabi, keine Radieschen, keine Weintrauben, keine Kiwi, keine Bananen…
Ich entschied mich also für Limetten, um überhaupt irgendetwas zu kaufen. Die Eierabteilung hatte an jenem Abend nur noch Eier aus Bodenhaltung im Angebot – Bio- und Freiland komplett ausverkauft.
Ich zog also weiter – die Regale ungewohnt leer. Kein Brot, kaum Konserven. Ich war dennoch im Konservengang stehengeblieben, wenn es schon kein frisches Obst mehr gab, dann vielleicht eingelegtes. Ich entschied mich für Pfirsiche im Glas. Nie zuvor hatte ich mir Pfirsiche im Glas gekauft. Darauf zog ich weiter und griff nach einer Packung Kekse – einfach um noch irgendetwas zu kaufen.
Auf dem Heimweg beschlich mich ein unbekanntes Gefühl, ich fühlte mich wie ein Statist im falschen Film, fühlte mich etwas wie zu Kriegszeiten – obwohl ich doch nie zu welchen gelebt hatte. Ich erinnerte mich an eine Geschichte meiner Mutter, die damals in Polen auf einem Campingstuhl die ganze Nacht über vor der Metzgerei gewartet hatte, um an Wurst zu kommen. Als am Morgen die Dame vor ihr gerade dabei war, die letzten Würstchen zu bezahlen, und meiner Mutter bewusst wurde, dass sie ohne die meiner (damals noch kleinen und heute großen) Schwester versprochenen Würstchen heimkehren würde, konnte sie nichts anderes tun, als zu weinen. Das muss schlimm gewesen sein…

Mal schauen, wie es heute wird, denke ich mir, immer noch auf den Basilikum starrend, greife nach meinem Einkaufsbeutel und gehe aus dem Haus. Auf dem Weg zum Supermarkt kommt mir in den Sinn, mein Bankkonto zu prüfen. Ich will prüfen, ob mir mein Gehalt für diesen Monat überwiesen wurde. Als ich feststelle, dass es auf meinem Konto eingegangen ist, atme ich erleichtert aus. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal vor dem Einkaufen mein Konto gecheckt habe, vielleicht vor einigen Jahren, als ich noch Studentin war. Doch jetzt scheint alles anders. Ungewiss, man ist vorsichtiger, misstrauischer, ängstlicher.
Etwas in meiner Tasche vibriert, ich zücke mein Smartphone und lese die Nachricht eines Freundes:
Viel Spaß beim Einkaufen, man muss jetzt anstehen wie vorm Club.
Am Supermarkt angelangt finde ich keine Schlange vor – stattdessen eine Menge Obst und Gemüse. Ich erledige meinen Einkauf und bin dankbar.
Dankbar für Süßkartoffeln, Avocado, Bioeier und die drei Basilikumstängel in dem Topf auf dem Fensterbrett meiner Küche.

 

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