Es war einer dieser Abende, an denen ich nichts mit mir anzufangen wusste, Stunden damit verbrachte, mich in meinem Zimmer zu verkriechen, die Wand anzustarren und mir Gedanken über die ungerechte Fügung meines Schicksals zu machen. Ich dachte an all jene, die sich in derselben Sekunde, in der ich mir die Augen ausheulte, amüsierten. Auf dem Weg zu einer Party, zu Verabredungen mit Freunden oder einfach bloß in die Stadt. Mit ihren nagelneuen Superschlitten durch die Gegend fuhren, lediglich um anzugeben und um damit gesehen zu werden.

Ich spürte wie mir – zum wahrscheinlich hundertsten Mal an jenem Abend, Tränen in die Augen stiegen und blinzelte sie wütend weg. Meine Augen brannten wie Feuer und diese Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Ich dachte zu viel nach, dessen war ich mir durchaus bewusst, dennoch war ich nicht in der Lage dazu, an etwas anderes zu denken. An jenem Abend kreisten meine Gedanken bloß um diese eine Ungerechtigkeit:
Mein Stiefvater hatte sich einen neuen Wagen gekauft, weshalb nun meine fast ein und halb Jahre jüngere Stiefschwester seinen alten zum Geburtstag bekommen sollte, während ich immer noch mit dem Fahrrad durch die Gegend trudeln durfte. Diese Tatsache hatte eine riesige Debatte innerhalb der Familie ausgelöst, denn da ich die ältere von uns beiden war, stand dieser Wagen eindeutig mir zu! Mein Stiefvater behauptete, er würde seine Entscheidung noch einmal überdenken, doch in Wahrheit stand diese schon lange fest.

Apathisch saß ich da, suhlte mich in Selbstmitleid und ließ die Zeit einfach an mir vorbeiziehen. Meine Freundinnen bekamen zu ihrem achtzehnten Geburtstag jeder einen Neuwagen geschenkt und alles, was ich von meinen Eltern erwartete, war lediglich die alte schäbige Schrottkarre meines Stiefvaters. Doch wie es das Schicksal scheinbar für mich vorgesehen hatte, stand mir nicht einmal diese zu und weitere grauenvolle gemeinsame Jahre mit meinem Fahrrad waren vorprogrammiert.

Je länger ich darüber nachdachte, desto schlimmer wurde es. Heiße, allumfassende und unzähmbare Wut stieg in mir auf, so heftig, dass ich einfach nur schreien wollte. Der Klos in meinem Hals wuchs heran zu einem unaufhaltsamen Geschwür, das jeden Moment explodieren würde. Mein Magen rebellierte und drehte sich im Kreis. Angst, Enttäuschung, Traurigkeit und Missmut in mir vermischten sich zu einer bösartigen Komposition, die mich zu vergiften drohte. Es war ungerecht, so ungerecht. Während ich einige Male tief ein und wieder ausatmete, zwang ich mich, die Fassung zu bewahren und den Schrei, der drängelnd in meinem Hals pulsierte, wieder hinunterzuschlucken. Danach wischte ich mir die tränenverschleierten Augen trocken und blickte aus dem Fenster.
Der Mond tauchte den Nachthimmel in einen ungewöhnlichen Farbton und der Garten lag in der Dämmerung. Der Wind fuhr mit einem trostlosen Heulen über die Gräser, während die Zweige der einsamen Trauerweide wild um sich schlugen. Ein unwillkürliches Gefühl beschlich mich und ich zog die Vorhänge wieder zu. Ich legte mich unter die Bettdecke, wälzte mich hin und her und versuchte vergeblich einzuschlafen.        Es war wie ein Fluch – ich konnte einfach an nichts anderes denken als an diesen Wagen und das zementierte Dauergrinsen meiner Schwester, sobald sie seine Schlüssel in der Hand halten würde. Bei diesem Gedanken wurde mir kotzübel und ich drückte mein Gesicht fest in mein Kopfkissen, um einen ohrenbetäubenden Schrei zu dämpfen.

Plötzlich überfiel mich wieder dieses unwillkürliche Gefühl. Ich war mir sicher, dass ich nicht allein war. Ich spürte die Anwesenheit von etwas Seltsamem. Ich wusste nicht, was es war, doch spürte ich zweifellos und mit absoluter Sicherheit, dass ich nicht allein war. Da war etwas, dessen Wesen ich weder zu erklären, noch selbst zu begreifen vermochte. Ich spürte seine Anwesenheit mit jeder einzelnen Faser meines Körpers. Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Präsenz. Meine Augen waren geschlossen. Ich wagte es nicht, sie zu öffnen, denn ich fürchtete mich vor dem, was ich erblicken könnte. Meine verkrampften Bauchmuskeln pressten mir die Luft aus der Lunge, während ich unauffällig versuchte, tiefer und tiefer unter die Decke zu kriechen. Mein Pyjama saugte sich wie Klebeband an meinem Nacken fest. Ich war von einer Woge heißer, stickiger Luft umfangen und drohte unter meiner Bettdecke zu ersticken. Vorsichtig wischte ich mir die nassgeschwitzten Handflächen am Bettbezug ab – ich durfte mich auf gar keinen Fall bewegen. Ich hielt den Atem an und verharrte vollkommen reglos, aus Angst es könnte mich entdecken. Dieses Seltsame Etwas, dessen Anwesenheit mein Herz fast zum Stillstand trieb. Ich verharrte so lange in meiner Position, bis ich irgendwann im Nichts schwebte, weder richtig wach noch schlafend. Das Merkwürdigste an der ganzen Sache jedoch war, dass je mehr Zeit verging, ich mich umso mehr an die Anwesenheit dessen, was ich nicht zu begreifen vermochte, gewöhnte. Die Furcht ließ langsam aber stetig nach, so als wäre es zu einem Teil meiner selbst geworden. Ich lag also da und versuchte mich einfach nur noch zu entspannen.

Stunden vergingen, bis ich kurz davor war einzuschlafen. Für eine Sekunde war ich weggenickt, als ich plötzlich etwas Unbeschreibliches erblickte. Meine Augen waren fest verschlossen und doch konnte ich es genau erkennen. Vor meinem geistigen Auge sah ich es. Das seltsame Etwas, dessen Präsenz ich die vergangen Stunden immer stärker zu spüren bekommen hatte. Vor Schreck riss ich die Augen weit auf. Mein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer gegen meinen Brustkorb, die Kinnlade klappte mir herunter. Ich wollte laut schreien, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Mir entfuhr bloß ein erschrockenes, tonloses Keuchen. Vor mir befand sich etwas Waberndes. Es besaß keinen materiellen Körper, sein Zustand war weder fest, flüssig noch gasförmig. Es besaß keine Konturen, war nicht durchsichtig. Es bestand aus eigenartigen Farben, von denen ich nicht einmal wusste, dass solche existierten. Es war unbeschreiblich und mit Sicherheit nicht von dieser Welt. Das was jedoch am auffälligsten war, war seine Anmut. Nie hatte ich etwas so Wunderschönes erblickt. Ich spürte seine Wärme und seine absolute Reinheit. Was ich ebenfalls spürte war, dass es intelligent war. Wahrscheinlich um Welten intelligenter als ich. Einen kurzen Moment lang fragte ich mich, wie ich mich vor so etwas Wunderschönem bloß fürchten konnte. Im nächsten Augenblick zuckte ich zusammen und schreckte einen halben Meter zurück. Trotz seiner Schönheit beschlich mich wieder dieses unheimliche Gefühl, denn mein Schrecken vor dem Unbekannten überwog. Ich schmiegte meinen Körper so fest es ging an die Wand und erstarrte.

„Hab keine Angst“, sagte es, ohne dass es Lippen oder Vergleichbares besaß, als würde es telepathisch mit mir kommunizieren. Ich vernahm keine Stimme, welche diese Worte artikulierte, sondern spürte sie und gleichzeitig ihre Bedeutung. Ich blinzelte einige Male und glaubte fest daran, jeden Moment aufzuwachen. Dies konnte einfach nicht real sein. Immer dann, wenn ich wusste, dass ich träumte, wachte ich kurz darauf auf. Doch dieses Mal passierte nichts. Ich kniff die Augen fest zusammen, bevor ich sie einige Sekunden später wieder öffnete. Plötzlich saß ein Mensch vor mir. Ein Mensch mit zwei Armen und zwei Beinen, einem materiellen Körper und einem Gesicht – genauso wie ich. Es war ein gutaussehender, muskulöser junger Mann mit vollem, seidigen goldblondem Haar und einer gut gebauten Statue. Feine, symmetrische Gesichtszüge und tiefblaue Augen vollendeten sein Antlitz. Er trug eine einfache Jeans und einen sportlichen Pulli und lächelte mich an. Für mich war er fremd, dennoch fühlte sich seine Gegenwart angenehm und vertraut an.

„Wie bist du hier reingekommen?“, stotterte ich, während ich die verschlossene Zimmertür anstarrte. Meine Stimme hatte Mühe, sich an dem Kloß in meinem Hals vorbei zu quetschen. Er antwortete nicht. Stattdessen wurde sein Lächeln breiter und Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen. Gleichzeitig spiegelte sich ein Hauch von Mitleid in seinem Gesichtsausdruck wieder.

„Bist du ein Freund meiner Schwester?“, fragte ich und dachte gleichzeitig darüber nach, wie oft sie ihre festen Freunde wechselte.

„Nein. Ich bin ein Freund von dir“, erwiderte er mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, die mich erschauern ließ. „Wo ist dieses Ding das eben noch hier war? Hast du es verjagt?“, wollte ich wissen und suchte nach diesem unbeschreiblichen Etwas.

„Nein“, setzte er mit sanfter Stimme an, „das was du eben gesehen hast war ich. Ich habe nur menschliche Gestalt angenommen, weil deine Furcht vor mir zu groß war. Das menschliche Gehirn des materiellen Körpers, in dem du dich befindest, ist nicht in der Lage dazu, meine wahre Existenz zu begreifen. Deswegen hat es einen Schutzmechanismus hergestellt, damit du mich in einer Gestalt siehst, welche du nicht fürchten musst. Du siehst und begreifst nur die Dinge, die an deine materielle Welt gebunden sind und euch Menschen als logisch erscheinen.“

Er blickte mich mit funkelnden Augen an und seine Worte hingen schimmernd zwischen uns in der Luft, so viel Wahrheit und Bedeutsamkeit schien in ihnen zu stecken.

„Wer bist du und was willst du von mir?“, schoss es aus mir heraus. Mir wurde schwindelig und ich war mir sicher, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

„Weder besitze ich einen Namen, noch gibt es Worte für eine angemessene Erklärung dessen, was ich bin. Ich bin lediglich hier, um dir zu bedeuten, dass du vom rechten Weg abgekommen bist.“

„Vom rechten Weg abgekommen? Was für ein Weg? Und was willst du mir zeigen?“ Aufgebracht wirbelte ich umher. Ich war gerührt und überwältigt, zutiefst verwirrt und verängstigt zugleich. Ich verstand noch nicht, was mir mein wundersamer Gast zu sagen versuchte und welch tiefliegende Botschaft sich eigentlich hinter seinen Worten verbarg.

„Du wirst es erst verstehen, wenn du es siehst.“ Der Namenlose streckte mir seinen Arm entgegen und griff behutsam nach meiner Hand. Ich spürte seine zarte Haut und die Wärme seiner Nähe. Es fühlte sich so echt an und es fiel mir schwer zu glauben, dass er nicht real und nur ein Trugbild meiner eigenen Angst sein sollte. Wir sahen einander tief in die Augen und ich vernahm ein leichtes Zittern in der Luft. Plötzlich fühlte es sich an, als würde ich schweben. Mit einem Mal fühlte sich alles so einfach an, so unbeschwert, so leicht wie eine Feder. Als wäre mir eine tonnenschwere Last von den Schultern gefallen. Ich sah an meinem Körper hinab, doch da war nichts. Weder konnte ich mit den Augen etwas erkennen noch mit den Händen nach etwas greifen. Alles was ich wahrnahm, erblickte ich nicht mit meinen Augen, ich fühlte es. Und genau in diesem Augenblick – es war bloß ein Wimpernschlag – begann ich zu verstehen. Eine Woge aus Gedankenfragmenten rauschte an mir vorbei, unzählige Szenarien und die verschiedensten Gefühle. Ich spürte Liebe, Harmonie, Glück und Vollkommenheit, so stark, dass es fast unmöglich war. Eine längst vergessene Erkenntnis breitete sich in mir aus und gleichzeitig das Gefühl, dass alles einen Sinn ergab. Als hätte ich schon immer über dieses Wissen verfügt, dass dieser Ort existierte und es nur vergessen. Ich wusste, dass mein menschlicher Körper sich momentan nicht hier bei mir, sondern in einer anderen Welt befand. In einer Welt, die so viel anders war als diese. Für diesen Moment war ich nicht das todtraurige Mädchen, welches sich wegen eines unbedeutenden Haufens Blech die Augen ausheulte. In jenem Augenblick war ich einfach nur ich – das tiefliegende innere Wesen, das allgegenwärtige, ewig lebende nur aus Emotionen bestehende Lichtwesen.  Der Namenlose war bei mir, ich sah ihn nicht, aber ich konnte ihn spüren. Er war ganz nah bei mir, so als wären wir eins, als wäre einfach alles miteinander vereint. Ich nahm wunderschöne, atemberaubende Dinge wahr, Dinge mit keinem menschlichen Wort der Welt zu beschreiben. Die Welt, in der ich mich befand, bestand aus absoluter Vollkommenheit und das universelle Glück hatte hier längst jeden Winkel erreicht. Meine gesamte Welt schrumpfte in jenem Augenblick zusammen, auf diesen einen Fleck, der so klein war und doch so groß.

Ich musste im Paradies gewesen sein oder gar im Himmel. Ich wusste es nicht. Doch das spielte keine Rolle, denn es war egal, weil hier nichts eine Rolle spielte. Es gab weder gut noch böse, richtig oder falsch, wichtig noch unwichtig. Die Dualität existierte in diesem Universum nicht und somit gab es hier auch nichts Schlechtes. Das Leben, das ich bisher auf der Erde geführt hatte, erschien mir plötzlich so weit entfernt und unbedeutend. Ich wünschte mir, auf ewig hier zu bleiben, hier wo nichts weiter als Gefühl existierte, weit abgegrenzt von der habgierigen, kalten, materiellen Welt aus der ich stammte. Vielleicht war es eine Ewigkeit, die ich mich dort aufgehalten hatte, vielleicht aber auch bloß wenige Millisekunden, ich habe keine Antwort darauf. Distanzen und Zeit waren in dieser Welt nicht messbar und absolut alles und jedes Wesen nahmen ein und denselben Raum ein. Es gab kein Oben und kein Unten, kein Links und kein Rechts und kein Innen oder Außen. Alles war mit einander verwoben zu einem einzigen, mächtigen, wundervollen, unbeschreiblichen Glücksgefühl absoluter Vollkommenheit.

Ich befürchtete, dass ich diesen Ort früher oder später wieder verlassen musste und dass ich eigentlich gar nicht hier sein durfte. Und ich hatte Recht. Unerwartet nahm ich etwas Dunkles war. Es war etwas Unnatürliches, das nicht in diese Welt gehörte. Etwas vollkommen Bösartiges, absolut Schlechtes und Unreines, das einem die Seele vergiften konnte. Neben der Liebe, Freude und Makellosigkeit, die ich in dieser Welt wahrnahm, nahm ich plötzlich auch negative Emotionen wahr. Angst, Wut, Neid, Hoffnungslosigkeit, und Verzweiflung, Unbehagen, Missmut, tiefste Traurigkeit und sogar Hass. Und ehe ich mich versah, erkannte ich, dass diese Emotionen von mir stammten. Es traf mich wie ein Schlag. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in mir aus und diese traurige Wahrheit zerriss mir das Herz. Meine Gefühle hatten in dieser Welt nichts zu suchen, denn hier existierte Derartiges nicht. Ich spürte, wie der Namenlose sich von mir entfernte, doch er gab mir zu verstehen, dass er auf mich warten würde und wir einander eines Tages wieder sehen würden.

Im nächsten Augenblick fand ich mich in meinem Bett wieder. Ich öffnete meine Augen, aus denen sich eine Träne löste. Vorsichtig zog ich einen der Vorhänge bei Seite und sah hinauf zum Mond. Er hing majestätisch in tiefschwarzer Nacht, dunkle Wolken zogen an ihm vorbei, doch er stand an exakt derselben Stelle wie zuvor, als wäre keine Zeit vergangen. Die Sehnsucht nach jener Welt brannte wie ein schmerzhafter Knoten in meinem Bauch, doch gleichzeitig entfachte die Gewissheit in mir, dass ich eines Tages – sobald ich bereit dazu war, auch Teil dieser Welt werden durfte. Endlich ergab alles wieder einen Sinn, alles hatte sich zu einem vollendeten Puzzle zusammengefügt, all meine Fragen waren beantwortet und die Wahrheit steckte tief in mir fest. Ich würde sie nie wieder vergessen, diese absolut vollkommene Welt, die von nun an ein Teil von mir war. Auch wenn ich es jetzt kaum mehr begriff und es mit Worten nicht zu beschreiben vermochte, so blieb die Erinnerung an jenes Universum ein strahlend helles Licht, das niemals erlöschen würde.

Ein Knarren riss mich aus meinen Gedanken und ich fuhr herum in die Richtung, aus der es gekommen war. Die Zimmertür stand offen und meine Schwester stand vor mir. Sie trug ein verdächtig kurzes knallrotes enges Kleid und es steckten lauter Lockenwickler in ihrem Haar fest. Mit misstrauischem Gesichtsausdruck ging sie einige Schritte auf mich zu.

„Worüber freust du dich so?“, fragte sie schnippisch. Ich zuckte mit den Achseln. Selbst wenn ich versucht hätte, es ihr zu erklären, es wäre mir nicht gelungen und sie hätte es niemals verstanden. Sie warf mir einen abschätzigen Blick zu und begutachtete anschließend ihre dunkelroten, frisch lackierten Fingernägel.

„Wie auch immer“, setzte sie mit knurriger Stimme an, „ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass du dir Papas Wagen abschminken kannst!“ Sie blickte mich herausfordernd an. Wut und Wahnsinn rangen in ihren Augen. Gleichzeitig die Angst, einen für sie scheinbar lebenswichtigen Kampf zu verlieren. „Der Jeep gehört mir, ganz gleich mit welchen Mitteln du versuchst, ihn an dich zu reißen!“ Meine Schwester sprach mit vibrierender, hysterischer Stimme und warf die Hände in einer dramatischen Geste in die Luft.

„Du kannst ihn haben“, verkündete ich unbekümmert, worauf sie mich bloß verwirrt ansah. Sie hob die Brauen und musterte mich als sei ich verrückt geworden.

„Du kannst ihn haben“, wiederholte ich mit fester Stimme. „Du kannst damit zur Schule fahren, und wenn du Lust hast, kannst du mich ja mal von der Uni abholen“, schlug ich vor. Ich lächelte sie an und tatsächlich freute ich mich für sie. Und mit einem Mal fühlte es sich erneut so an, als wäre mir eine unbeschreibliche Last von den Schultern genommen. Denn ich wusste, dass es etwas gab, das so viel bedeutender war, als die alte Klapperkiste unseres Dads. Eine Welt die mit allem absolut im Einklang war und aus nichts als absoluter Harmonie bestand. Ein Universum, weit entfernt von unserer traurigen, habgierigen, materiellen Welt. Und um diesem Universum eines Tages gerecht zu werden, durfte ich nicht wieder vom rechten Weg abkommen. Jetzt verstand ich die tiefliegende Botschaft, die sich hinter den Worten des Namenlosen verbarg.

Meine Schwester warf mir einen überraschten Blick zu, zuckte mit den Schultern, drehte sich auf den Versen um und verließ das Zimmer. Ihren Triumph konnte ich förmlich riechen, doch das störte mich nicht. Ich legte mich wieder hin, schloss die Augen und dachte an den Namenlosen. Ich dachte an seine Wärme und seine absolute Reinheit und bedankte mich in Gedanken bei ihm dafür, dass er mir einen Einblick in seine unerklärlich absolut vollkommene Welt verschafft und damit womöglich einen ewig andauernden Streit zwischen meiner Schwester und mir verhindert hatte.

Von nun an, würde ich jeden Tag nach diesem Gefühl streben, diesem Gefühl aus dem seine Welt bestand. Gefühle wie Trauer, Missgunst, Wut oder gar Hass sollten keinen Platz mehr in meinem Leben finden.

Materialismus Philosophie

Materialismus ist eine Lebenseinstellung, die Besitz und Gewinn in den Vordergrund stellt. Außerdem ist sie die Lehre, die alles Wirkliche als Erscheinungsform oder Auswirkung der Materie auffasst.
Würdest du die Protagonistin der Erzählung als materialistisch einschätzen?
Wahrscheinlich handelt es sich in ihrem Fall einfach bloß um einen Teenager, der einfach nur dazugehören und das haben möchte, was auch alle anderen in ihrem Umkreis besitzen. Zu verübeln ist ihr das jedenfalls nicht, oder?
Was hatte der Namenlose damit gemeint, als er sagte, sie würde vom rechten Weg abkommen?
Vielleicht sollten wir den materiellen Dingen hier auf Erden einfach nicht allzu große Bedeutung beimessen und uns nicht in Geschichten des „Nichthabens“ oder „Nichtbekommens“ hineinsteigern. Solche Geschichten rauben uns unseren Seelenfrieden und können die negativsten Emotionen in uns hervorrufen.
Und am Ende des Tages verlassen wir diese Welt doch ohne unser Hab und Gut, nicht wahr? Alles, was wir hier auf Erden besitzen, ist also bloß geliehen.
Und vielleicht existiert ja auch neben dieser noch eine andere Welt, eine nichtmaterielle Welt, die gerade deshalb, um einiges unkomplizierter und harmonischer ist als die unsere. Was meinst du?

Deine Eva

 

1 Comment

Leave a Reply

Your email address will not be published.