Anastasia  und  das dunkle Geheimnis

Kapitel 6: Die Enthüllung

Es war kalt, schlammig und unbequem. Völlig durchnässt und mit dröhnendem Schädel wachte ich auf. Panisch versuchte ich, in dieser Dunkelheit meine Umgebung zu mustern.
Ich lag in unserem Garten. Ich versuchte, den Filmriss, den ich hatte, zu beheben.

„Billy? Bist du hier?“. Keine Antwort. Hastig kramte ich in meiner Handtasche nach meinem Hausschlüssel.
Dann torkelte ich zur Tür und schloss (nach mehreren Versuchen, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu bekommen und ihn in die richtige Richtung zu drehen) die Tür auf. Ich krabbelte die Stufen hinauf in mein Zimmer, riss mir die nassen Klamotten vom Leib und legte mich in mein Bett. Als ich wieder aufwachte, hatte ich immer noch diesen pochenden Schädel. Mein Körper war inzwischen trocken, doch mein Haar war immer noch feucht. Als ich aufstand, um mir ein Glas Wasser zu holen, stolperte ich über etwas Feuchtes. Ein schwarzes Jackett lag auf meinem Fußboden – es war das Jackett von Billy und so langsam kamen wieder die Ereignisse des gestrigen Abends in mir hoch! Ich kramte mein Smartphone hervor und las die ungelesene Nachricht von Jake. Scheinbar hatte Billy ihm von meinem Smartphone eine Nachricht gesendet, ich sei mit meinen Eltern zusammen nach Hause gefahren, damit sich niemand Sorgen um mich machen würde. Nun glaubte Jake, es hätte daran gelegen, dass ich es leid war, ihm dabei zuzusehen, wie er mit den anderen Mädchen unseres Jahrgangs herumflirtete. In seiner Nachricht entschuldigte er sich dafür und versicherte mir, dass dies in Zukunft nicht mehr vorkommen würde. Natürlich kannte er nicht den wahren Grund für mein plötzliches Verschwinden. Er hatte keine Ahnung, dass ich mich zusammen mit den sogenannten „Feinden“ betrunken hatte, da ich meine erste Begegnung mit meinem leiblichen Vater und den Kindern meiner Eltern nur schwer verkraftet hatte. Dass ich stockbetrunken von Billy Anderson nach Hause gebracht wurde, da ich selbst keinen Fuß mehr vor den anderen habe setzen können, wusste er glücklicherweise auch nicht. Mühselig raffte ich mich wieder auf und ging hinunter in die Küche.
Meine Mum saß am Küchentisch und weinte. Mein Dad saß mit besorgtem Gesicht neben ihr und tröstete sie.

„Mum, Dad was ist los?“, frage ich sofort.

„Nichts weiter, Stacy, es ist alles in Ordnung!“

„Aber Mum, ich sehe doch, dass hier nichts in Ordnung ist! Was ist passiert?“, fragte ich nachdrücklich.

„Amanda, wir müssen es ihr sagen.“

„Was müsst ihr mir sagen?“ War dies der Moment, in dem sie mir die Wahrheit offenbaren würden? Die Wahrheit, von der sie nicht wussten, dass ich sie bereits kannte?

„Bitte setz dich“, wies mein Dad mich an und ich tat, was er sagte. „Als wir gestern Abend losgefahren sind, um euch wieder abzuholen, wart ihr nicht mehr da. Gott sei Dank haben wir dich danach in deinem Bett wiedergefunden.“ Mein Dad hielt eine Sekunde inne, bevor er fortfuhr. „Aber Jimmy ist weg.“

„Wie bitte? Jimmy ist weg? Wo ist er?“

„Wir wissen, wo er ist. Aber es wird nicht leicht sein, ihn wieder zurückzuholen.“ Der Gesichtsausdruck meines Vaters verriet alles. Die Anderen hatten Jimmy. Ich wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, dass ich daran nicht ganz unschuldig war. Ich erinnerte mich an das Gespräch von gestern Abend. Eigentlich hatten Billys Freunde geplant, mich statt seiner zu entführen, doch Billy hatte mich vor ihnen beschützt.

„Es ist meine Schuld, Greg. Ich hätte auf dich hören sollen. Aber ich bin so egoistisch gewesen und wollte partout dorthin, weil ich sie unbedingt sehen wollte. Es war tatsächlich zu gefährlich, dort aufzukreuzen. Du hattest Recht, einfach mit allem. Wir hätten nicht zurückkehren sollen, in diese Stadt. Mir hätte klar sein müssen, dass sie auch versuchen würden, uns Anastasia und Jimmy zu nehmen.“ Meine Mutter schlug sich die zitternden Hände vors Gesicht, um ihren gequälten Gesichtsausdruck vor mir zu verbergen.

„Nein Amanda, niemand konnte ahnen, dass das passieren würde. Uns Vorwürfe zu machen, bringt uns jetzt auch nicht weiter.“

„Mum, ich habe sie gesehen“, sagte ich. „Vanessa – sie ist wunderschön. Aber ihr Blick, so kalt, dass es einem Angst einjagt. Ich glaube, sie hasst mich.“

„Du weißt von ihr?“, fragte meine Mum völlig erschüttert. „Ja, ich weiß, dass du noch eine Tochter hast und dass Dad noch zwei weitere Söhne hat.“ Auch wenn ich Jimmy versprochen hatte, unseren Eltern nicht zu erzählen, dass ich unser Geheimnis bereits kannte, konnte ich es nun nicht länger vor ihnen verbergen. Wahrscheinlich hätten sie es mir ohnehin gleich enthüllt.

„Weißt du sonst noch irgendetwas?“

„Ich denke, ich weiß so ziemlich, alles.“ Mein Dad versteckte sein Gesicht nun auch hinter seinen Händen und meine Mum fing jetzt noch stärker zu weinen an. Ich sprach nicht aus, dass ich auch wusste, dass mein Dad nicht mein leiblicher Vater war. Immer noch brachte ich es nicht übers Herz, diese Tatsache laut auszusprechen.

„Hey ich komm schon damit klar, okay? Das Wichtigste ist jetzt, dass wir uns Jimmy zurückholen.“

„Der Mächtigenrat hat eine Versammlung einberufen. Und dich bringen wir zum Mächtigenunterricht. Dort wird euch Kindern erklärt, warum Jimmy bei den Anderen ist.“ Augenblicklich traf es mich wie ein Schlag.

„Aber Mum, Dad, die Clique darf niemals davon erfahren, dass ihr einst den Anderen angehörtet und dass wir Geschwister auf der anderen Seite haben. Das würden sie niemals verkraften. Sie werden Jimmy und mich dafür hassen! Jake wird mich hassen!“

„Keine Angst. Sie werden es nicht erfahren. Der Mächtigenrat hält es für besser, es ihnen vorzuenthalten. Aus diesem Grund seid ihr bei der Mächtigenkonferenz nicht dabei und habt stattdessen Unterricht. Wir sind jetzt ein Teil der Gemeinde und unsere Vergangenheit hat damit nichts zu tun.“ Ein riesiger Brocken fiel mir vom Herzen. Die Clique durfte nie und nimmer von unserem widerlichen, absurden Familiengeheimnis erfahren, denn das wäre mein absoluter Untergang! Mein Platz in der Clique sowie mein Status innerhalb der Schulgesellschaft waren kein leichter Kampf gewesen. Die Clique hasste die Anderen, verabscheute sie bis aufs Letzte! Würden sie erfahren, dass Viktor Anderson, der, den alle für den Mörder von Nikolai Pearson hielten, in Wahrheit Jimmys Halbbruder und der Sohn meines Dads war, würden sie uns womöglich ebenso hassen. Und das konnten wir nicht riskieren.

Mit Tempo 180 fuhr mein Dad die unebene Straße entlang, die uns zur Saint McSawyerson High School führte. Als er hielt, stieg meine Mum aus und nahm mich sofort in die Arme. Sie erdrückte mich beinahe, hielt mich fest, als wollte sie nie wieder loslassen.

„Wir sind so froh, dass wir dich haben. Wir könnten es uns niemals verzeihen, Jimmy oder dich zu verlieren. Ihr seid unser Ein und Alles“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Ich stieg die spiralförmigen Treppen hinauf in die Spitze des Turms. Oben angelangt, klopfte ich an das riesige beton- und stahlverstärkte Tor. Nach einer Weile öffnete sich eine Luke an der rechten Pforte des Tors. Zwei neugierige Augen spähten hindurch und als sie mich entdeckten, schloss sich die Luke sofort wieder. Mr Domain öffnete und bat mich herein.

„Miss MacFountain”, begrüßte er mich. Der riesige Saal, der aussah wie eine Mischung aus Bibliothek und Hörsaal, kam mir heute viel größer vor als beim ersten Mal. Womöglich, weil der größte Teil der Gemeinde nicht anwesend war. Die Clique saß auf den Holzbänken, alle waren bereits anwesend. Auch ihre Geschwister. Tinas Bruder David war anwesend. Auch Brooke saß neben einem älteren Jungen. Lena und Tom saßen beisammen, Nathan saß neben einem älteren, dunkelhäutigen Mädchen, welches ich bereits auf dem Spätsommerfest gesehen hatte und zu Daniels linken Seite saß ein Mädchen, es war vielleicht elf Jahre alt. Zu seiner rechten Seite saß Jake. Und neben ihm fehlte jemand: Nikolai Pearson, sein verstorbener Bruder. Auch ich musste heute ohne Begleitung meines Bruders hier sein. Diese Erkenntnis drückte wie ein schmerzhafter Knoten in meinem Bauch. Ich versuchte, meine Tränen zu unterdrücken und setzte mich auf einen freien Platz neben einem Mädchen, das etwas älter als ich zu sein schien. Ich sah Jimmys Gesicht vor mir, fragte mich, was er wohl gerade durchmachte. Zugleich lagen fragende Blicke auf mir. Ich schüttelte sie ab und überließ Mr Domain das Wort für Erklärungen.

„Gut, dann sind wir jetzt wohl vollzählig.“ „Wo ist Jimmy?“, warf Tom sofort in den Raum. „Stacy, wo ist Jimmy?“, fügte er gleich noch lauter hinzu. Ich reagierte nicht und warf Mr Domain einen hilfesuchenden Blick zu.

„Kinder“, setzte Mr Domain an. „Jedem von uns war klar, dass dieser Tag heranbrechen würde. Die Anderen haben es seit Jahrzehnten auf unsere Reserven der Quelle abgesehen, da sie mit den ihren unbedacht, ungeschickt und verschwenderisch umgehen. Jetzt haben sie Jimmy MacFountain in ihrer Gewalt und fordern ein Lösegeld in Form der Quelle.“ Mr Domains Stimme klang ruhig und bedrohlich leise. Er bemühte sich offenbar, uns nicht in Aufruhr zu versetzen. Doch in seiner Stimme klang eine Beunruhigung mit, die er nicht zu verbergen vermochte.

„Sie haben Jimmy?“, wiederholte Tom ängstlich. „Ich wusste es. Ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde.“ Er sah seine Schwester an. Hilflosigkeit und Verzweiflung rangen in seinen Augen.

„Sag es ihnen!“, forderte Lena. Sie sah zu mir hinab. „Wenn du es nicht tust, dann tue ich es“, drohte sie. Ich sah flehend zu dem Geschwisterpaar auf und versuchte, unauffällig den Kopf zu schütteln. Ich konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Und auch sie durften die Wahrheit nicht enthüllen. Nackte Panik machte sich in mir breit. Der Gedanke, dass sich das finstere Geheimnis meiner Familie der Clique sogleich offenbaren würde, nahm mir die Luft zum Atmen. Ich erkannte die Entschlossenheit in Lenas Blick und schluckte schwer. In ihren Augen loderte ein unheilvolles Feuer. Sie wartete einen Moment lang, während sie mich fordernd anblickte. Dann erhob sie sich von der Bank und wiederholte mit tiefer, kehliger Stimme:

„Sag es ihnen.“

„Was soll sie uns sagen?“, fragten Tina und Jake fast zeitgleich. Allesamt starrte uns an.
Ich war wie erstarrt, weigerte mich, dieses absurde, abartig vernichtende Geheimnis zu lüften. Ich wollte etwas sagen, mich wehren, irgendwie kontern, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. „Miss Hanson. Beruhigen und setzen Sie sich wieder. Es ist Ihnen nicht gestattet, darüber zu sprechen. Das ist eine Angelegenheit der MacFountains und des Mächtigenrats. Ihre Aufgabe bestand lediglich darin, Anastasia und Jimmy MacFountain in die Gemeinde zu integrieren.“

„Ich war diejenige, die sich bemühte, Stacy in die Clique zu integrieren. Was ist hier los? Ich verstehe nicht“, meldete sich Tina zu Wort. Ihr ahnungsloser Blick zerriss mir das Herz. „Früher oder später müssen sie es erfahren!“, betonte Lena hartnäckig. Tom zog an ihrem Arm, damit sie sich wieder setzte.

„Lass es sein, Lena“, bat er sie.

„Nein!“, wütete sie. Sie schüttelte ihren jüngeren Bruder grob ab. Sie sah zu mir hinab, Wut und Wahnsinn loderten in ihren Augen. Ich wusste, keiner könnte sie mehr von ihrem Vorhaben abhalten. „Unser sogenanntes neues Ehrenmitglied der Gemeinde, das sich für uns aufopferte, sein altes Leben hinter sich ließ, nur um uns in einem möglichen Kampf gegen die Anderen zu unterstützen, ist nicht das kleine, unsichere, unwissende Mädchen, für das ihr es alle haltet!“

„Was redest du da, Lena?“ Jake sah sie stirnrunzelnd an. Jetzt huschte ein fieses Grinsen über ihr Gesicht.

„Miss Hanson“, lenkte Mr Domain mit erhobener Stimme ein, doch Lena ignorierte ihn einfach.

„Anastasia MacFountain…“, kreischte sie. „… ist eine Lügnerin. Sie ist nichts weiter als eine Hochstaplerin!“ Hysterisch wirbelte sie umher, wie eine wilde, unzähmbare Bestie, gegen die sich niemand traute, Widerstand zu leisten. Tom schrak einen halben Meter vor ihr zurück, sogar Mr Domain hatte es jetzt die <span;>Sprache verschlagen. „Sag ihnen, wer du in Wirklichkeit bist und warum Jimmy verschwunden ist“, sagte Lena plötzlich mit gespielter, zuckersüßer Stimme. Bevor ich etwas entgegnen konnte, sprach sie weiter: „Jimmy ist bei den Anderen. Er ist bei den Andersons. Dort, wo er hingehört!“ Ihre giftgrünen Augen flackerten triumphierend. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanken, wie sehr sie mich von unserer ersten Begegnung an hasste, ohne mir auch nur den Hauch einer Chance gegeben zu haben.

„Was soll das? Was erzählst du da, Lena?“ wollte Daniel wissen. „Soll das hier irgendein dummer Scherz sein?“, fragte Nathan perplex.

„Aber er ist doch nicht freiwillig bei den Anderen. Er wurde von ihnen gefangen genommen“, erklärte ich mit zittriger Stimme.

„Ach ja? Und du hast dich also auch nur unfreiwillig mit Billy Anderson in einem abgelegenen Pub namens Longford Inn getroffen? Willst du uns etwa weiß machen, dass du mit Gewalt von ihm dorthin geschleift wurdest? Oder bist du eher gemütlich auf deinem Fahrrad dorthin getrudelt, um dann gemeinsam mit dem Feind ganz gewissenlos zu Abend zu essen?“

„Es waren bloß Pfannkuchen!“, erwiderte ich, wenngleich dies nicht gerade von Belang war. Woher zum Teufel wusste sie davon? Und wie sollte ich der Clique und Mr Domain das bloß erklären? Alle Blicke waren schockiert auf mich gerichtet. Sie schrien nach einer Erklärung. Jeder einzelne von ihnen war sprachlos. Die Einzige, deren Sprache es nicht verschlagen hatte, war Lena. Sie sah hinüber zu Jake und sagte langsam und deutlich:

„Stacy steckt mit Billy Anderson unter einer Decke. Mit dem Bruder von Nicks Mörder.“

Wie auswendig gelernt strömten die Worte aus ihrem Mund. Das letzte Wort betonte sie in einer Art und Weise, die wohl jeden einzelnen von uns schaudernd zusammenfahren ließ. Einem Peitschenschlag gleichend, fuhr es durch den Saal. Jake trieb es fast die Tränen in die Augen. Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

„Das… das ist nicht wahr“, sagte ich stotternd und mit brüchiger Stimme.

„Es ist nicht so, wie es sich anhört. Außerdem ist es nicht Viktor Anderson gewesen, der Nikolai Pearson getötet hat.“

„Ach, wirklich? Jetzt nimmst du diesen Verbrecher auch noch in Schutz? Wer soll es denn sonst gewesen sein, wenn nicht er?“ Ich versuchte, die Worte zu unterdrücken, die mir nun so drängelnd und ungeduldig auf der Zunge lagen. Doch meine Selbstbeherrschung war zu schwach und mein Drang nach Vergeltung zu groß.

„Du warst es!“, schoss es aus mir heraus. „Seht ihr, was ich meine? Sie ist vollkommen übergeschnappt! Nicht nur, dass sie sich heimlich mit dem Feind trifft, jetzt bezichtigt sie mich auch noch des Mordes an Nikolai Pearson! Sie hatte von Anfang an etwas gegen mich!“ Lena ließ sich wieder auf ihren Platz fallen, schlug sich demonstrativ die Hände vors Gesicht und gab ein gespieltes Heulen von sich.

„Stacy, wie kannst du nur so etwas behaupten?“, hauchte Jake leise. Schock und Unglauben ließen sein Gesicht erstarren. In seinen Augen spiegelten sich Fassungslosigkeit, Enttäuschung und Schmerz wieder. Auch die anderen hatte Lena mal wieder erfolgreich um den Finger gewickelt. Nicht nur Brooke, auch Tina nahm Lena jetzt in die Arme, um sie zu trösten. „In ihr steckt etwas Schlechtes. Ich weiß es. Etwas Finsteres, Unberechenbares von böser Natur. Ich sah den dunklen Ausdruck in ihren Augen, als sie auf Brookes Party diese Glühbirne zerplatzen ließ, um mich zu verletzen. Die Befriedigung, die sie dabei verspürte, es war abscheulich!“ Ich fasste es nicht. Wie lange hatte sie wohl für diesen Auftritt geübt? Gleichzeitig traf es mich wie ein Tritt in den Magen. Mit ihrer letzten Behauptung hatte sie nicht ganz Unrecht.

„Hör auf damit, bitte!“, flehte ich. Der schmerzende Knoten in meinem Hals, drohte sich jeden Moment in Tränen aufzulösen. Wut und Verzweiflung brannten wie Feuer in meiner Kehle. „Warum tust du das? Bitte hör auf damit, ich flehe dich an!“ Meine heisere Stimme vibrierte so stark, dass es in den Ohren schmerzte. Kapitulierend hob ich die Hände in die Luft. „Ich flehe dich an, Lena“, flüsterte ich, denn meine Stimme ließ mich nun gänzlich im Stich.

„Du musst ihnen die Wahrheit sagen“, erklärte Lena, die ganz plötzlich zu weinen aufhörte.

„Stacy, wovon spricht sie? Ich will wissen, was hier los ist!“, beschwerte sich Jake.

„Na los. Trau dich. Danach wirst du dich besser fühlen. Erzähl ihnen von der Vergangenheit deiner Familie. Und in welchem Zusammenhang sie mit den Andersons steht“, forderte Lena mich auf. Ein widerliches Grinsen erschien auf ihrem Gesicht und man sah ihr nicht im Geringsten an, dass sie soeben noch bitterlich geweint hatte.

„Über die Vergangenheit der MacFountains zu sprechen, steht Ihnen nicht zu, Miss Hanson“, wandte Mr Domain streng ein. „Lassen Sie es gut sein.“

„Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren! Wir haben keine Geheimnisse voreinander! Sie traf sich mit Billy Anderson und brach somit den Schwur, den sie auf der Aufnahmezeremonie leistete! Das hier geht jetzt uns alle etwas an!“ Mr Domain sah nachdenklich zu mir rüber. Gerade wollte er etwas entgegnen, als Lena ihn wieder einmal unterbrach. „Es war bloß eine Frage der Zeit, bis es früher oder später dazu kommen würde. Ich finde, wir alle hier sollten wissen, woran wir bei ihr sind. Finden Sie das nicht auch, Mr Domain?“

„Ist das wahr, Miss MacFountain?“, wandte Mr Domain sich an mich. „Trafen Sie sich mit dem Andersonjungen?“

„Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist“, verlangte Jake trocken. Ich sah hinauf in seine blauen, ehrlichen Augen, im Moment so empfindlich, so verletzlich. Einen Moment lang sahen wir beide einander unverwandt an. Ich konnte sehen, wie er versuchte, diese Vorstellung zu bekämpfen. Ich wollte ihm sagen, dass es nicht wahr sei, doch ich konnte nicht lügen. Weitere Lügen würden alles nur noch verschlimmern. Ich entgegnete nichts, mein Schweigen verriet mich natürlich.

„Warum?“, fragte er verständnislos. Sein Gesicht vor Demütigung verzerrt, seine Hände zu zwei Fäusten geballt stand er da. Er trat mit dem Fuß gegen eine der Bänke. Sie war am Boden befestigt, fiel also nicht um, doch zerbrach sie in der Mitte. Ein ohrenbetäubendes Knarren entstand, gleichzeitig ein kurzer wütender Schrei, der einem durch Mark und Bein ging. Jake lockerte seine Fäuste wieder, ließ seine Arme kraftlos hängen und setzte sich wieder. Sein Atem ging seltsam unregelmäßig, er sah mich verachtend an, dann blickte er wieder von mir weg – eine Geste, die mehr sagte als tausend Worte. Wie sollte ich es ihm erklären? Wie konnte ich ihm nur erklären, dass Billy und Viktor Anderson die Söhne meines Dads waren und Jimmys Halbbrüder?
Wie sollte ich ihnen erklären, dass Vanessa Anderson unsere Schwester war und meine Eltern einst der Gemeinde der Anderen angehörten? Und viel schlimmer noch, ich konnte sie doch niemals wissen lassen, dass Percy Anderson mein leiblicher Vater war! In dieser Hilflosigkeit dazustehen und zu wissen, dass unser abscheuliches Familiengeheimnis gleich enthüllt würde, drohte mich von innen heraus zu zerfressen. Wenn ich nicht sprechen würde, würde Lena es tun. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, bevor sie es tun würde, doch ich konnte nicht. Demut schien mich zu verspotten, indem sie mich lähmte und mir die Worte im Hals gefrieren ließ.

„Na gut. Dann werde ich es eben tun“, kündigte Lena an. Sie leckte sich die Lippen, auf diesen Moment musste sie so lange gewartet haben.

„Jimmy ist bei den Andersons, bei seinen Geschwistern. Bei Percy Anderson, Anastasias leiblichem Vater. Das, was sie wollen, ist die Quelle, ja, das stimmt. Doch es gibt da noch etwas, was sie wollen: Anastasia. Percy Anderson will seine Tochter bei sich haben. Das dunkle, böse Blut muss vereint werden. Doch da Anastasia zu feige war, um sich ihrem Schicksal zu stellen, haben sie Jimmy zu sich genommen. Ich will nicht wissen, was er ihretwegen gerade durchmacht. Vielleicht werde ich ihn nie wiedersehen!“

Tränen sammelten sich in Lenas Augen und ein lautes Aufschluchzen ließ ihren Körper erbeben. Erneut schlug sie sich in einer dramatischen Geste die Hände vors Gesicht und gab ein Heulen von sich.

„Was redest du da, Lena? Stacy, wovon spricht sie da?“, fragte Tina verstört. Ich gab keine Antwort, also richteten sie alle ihre Blicke erwartungsvoll auf Lena. Niemals würde ich es schaffen, ihnen das Unaussprechliche zu offenbaren. „Billy, Viktor und Vanessa Anderson sind Jimmys und Anastasias Geschwister und Percy Anderson ist Anastasias leiblicher Vater!“ „Billy und Viktor sind nicht meine Geschwister!“, protestierte ich, als könnte mich diese Tatsache noch irgendwie retten.

„Nun reicht es aber, Miss Hanson! Das geht jetzt wirklich zu weit. Ich schlage vor, wir alle setzen uns wieder und wir besprechen diese Angelegenheit in aller Ruhe“, schlug Mr Domain beschwichtigend und zugleich unbeholfen vor. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Selbst Mr. Domain schien mit dieser Situation komplett überfordert, obwohl er die Wahrheit bereits kannte.

„Das soll wohl ein schlechter Scherz sein, oder?“, kommentierte Daniel mit einem verzweifelten Schmunzelnd. „Ein ziemlich schlechter Scherz“, fügte Nathan hinzu.

Oh ja, aus tiefstem Herzen hatte ich mir gewünscht, dass all das bloß ein dummer Scherz war, ein böser Traum oder ein ziemlich schlechter Film, doch zu meinem Bedauern, war es die Realität. Und dies war meiner Reaktion nach deutlich zu entnehmen. Beschämt starrte ich zu Boden. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen, gegen die ich vergebens anzukämpfen versuchte. Warum tat Lena mir das an? Sie hatte dem Mächtigenrat doch versprochen, es niemandem zu verraten! Die Blicke meiner Freunde schmerzten. Enttäuschung, und Abscheu spiegelten sich in ihren Gesichtern wider. Jakes Blick wurde stahlhart und ich erkannte, wie das Licht in seinen Augen erlosch. Augenblicklich entstand eine Barriere aus Misstrauen und Verachtung zwischen ihnen und mir. Mit jenem Tag begannen meine Freunde, mich mit anderen Augen zu betrachten und ich wusste, dass sich das niemals ändern würde. Ich hätte versuchen können, mich weiterhin zu rechtfertigen. Doch dazu fehlten mir der Mut und die Kraft. Mr Domain öffnete das Tor, ich fuhr herum und rannte die Treppen hinab. Ich rannte so schnell ich konnte. Meine Knie zitterten, ich bekam nur noch schwer Luft. Alle paar Meter hielt ich an und brach erneut am Boden zusammen. Als ich bereits etwas vorangekommen war, setzte ich mich auf den kalten, nassen Boden und lehnte mich an einem Baum an. Dann erinnerte ich mich an Lenas Worte. Sie sagte, dass die Anderen Jimmy hatten und dass das, was sie eigentlich wollten, ich war. Ich erinnerte mich außerdem an die Worte der beiden Mädchen von gestern Abend. Ihr Plan war es gewesen, mich zu entführen. Ich raffte mich wieder auf und rannte heim. Jimmys Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge und mich erfasste der beunruhigende Gedanke, man könnte ihm etwas antun. Schnell verwarf ich diesen wieder – immerhin war Jimmy der Halbbruder der Andersonkinder. Abgesehen davon diente er den Anderen als Druckmittel, um an die Reserven der Quelle der Konservativen zu gelangen. Es war kalter und nasser Nachmittag, als ich oben auf dem Dachboden lag und wie die meiste Zeit meines bisher nicht so spektakulären Lebens in meinen Gedanken versunken war. Doch diesmal war es anders. Alles war anders. Ich dachte nicht darüber nach, wie schrecklich ich es fand, nach Longford gezogen zu sein, in eine Stadt, in der alles neu und fremd für mich war, in der ich niemanden kannte und mir so ziemlich jede Person, die ich kennen lernte, völlig suspekt erschien. Nein, ich dachte nicht darüber nach, wie wütend ich deshalb auf meine Eltern war und auf welche Art und Weise ich es ihnen das nächste Mal am besten zeigen würde. Nein: Dieses Mal war es anders. Denn diese Dinge waren nun belanglos. Tatsächlich war ich immer noch wütend auf meine Eltern. Doch der Grund dafür war nicht mehr der plötzliche Umzug nach Longford, sondern ein viel tiefer liegender Grund. Ich fror und zitterte am ganzen Leib. Doch die Kälte war nicht der Grund für mein Zittern. Ich zitterte aus Missmut, aus Verzweiflung, aus Angst. Nun war alles raus. Diese Abnormität von Wahrheit, welche die Clique niemals hätte erreichen dürfen, war nun auf sie eingeschlagen. Brutal und ohne Vorwarnung. Und genau in jenem Augenblick hatte sich alles verändert. Nie wieder würden sie mich auf dieselbe Art und Weise betrachten wie zuvor. Ich versteckte mich dort oben, um mich der Situation zu entziehen, in der ich mich momentan befand. Ich wollte niemanden sehen, nichts hören und auch nichts mehr wissen. Alles wirkte so surreal, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte jeder Zeit aus diesem Alptraum erwachen und in mein altes Leben zurückkehren, wonach ich mich mehr sehnte, als nach allem anderen je zuvor. Mein altes Leben, mit dem ich so unzufrieden gewesen war. Wie hatte ich nur so undankbar sein können?
Ich hatte doch alles gehabt, was ich brauchte. Ich hatte sogar richtige Freunde in Longford gefunden. Zumindest bis jetzt. Ob sie sich nun immer noch meine „Freunde“ nannten, war eine andere Frage. Ich wünschte mir, alles wäre wieder normal. Mein Dad wäre wieder mein richtiger Dad und nicht der Vater von Billy und Viktor Anderson.
Ich wünschte mir, ich hätte Billy niemals kennengelernt. Wenn ich keine Mächtige gewesen wäre, und mein leiblicher Vater keiner von den Anderen, dann hätte Lena mich nicht so abgrundtief gehasst und hätte sich möglicherweise halbwegs normal mir gegenüber verhalten. Jake hätte nicht geglaubt, ich hätte ihn hintergangen. Und, vor allen Dingen, wäre Jimmy hier bei mir in Sicherheit gewesen. Als ich an Jimmy dachte, rappelte ich mich wieder auf und nahm meinen Laptop vom Tisch. Ich klappte ihn auf und drückte den großen runden Knopf. Ich musste Billy schreiben und mich erkundigen, wie es Jimmy ging. Ich wartete den ganzen Abend auf Billys Antwort. Doch er schrieb nicht zurück.

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Die Anastasia-Trilogie

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Geheimnisvoll, gefühlvoll, gefährlich, magisch… 

Begib dich gemeinsam mit Stacy auf eine spannende Reise
und lüfte die Geheimnisse, die sich um die Mächtigen,
die Anderen und die Quelle der Existenz ranken.

Die Prophezeiung

„Eine alte Fehde zwischen zwei verfeindeten Gemeinden.
Ein dunkler Fluch, der ihre Existenz gefährdet.
Eine entzweite Familie, dazu gezwungen, einander zu hassen.
Und zwei Herzen, mit der Bestimmung, sie alle zu erlösen.“

Teil I: Anastasia und die Quelle der Existenz

Fantasy Roman: Anastasia und die Quelle der Existenz - Teil I
Die sechzehnjährige Anastasia (Stacy) zieht unerwartet in die Kleinstadt Longford. Doch mit der Stadt und ihren Stadtbewohnern scheint etwas nicht zu stimmen.

Diese seltsamen Blicke, eine Clique, die sich ihr gegenüber ziemlich fragwürdig verhält, diese allumfassende Energie, die sie hier verspürt und was hat es eigentlich mit den „Anderen“ auf sich, die auf die andere Seite der Stadt verbannt wurden?

Die Antworten auf Stacys Fragen lassen nicht lang auf sich warten, jedoch werfen diese nur noch weitere Fragen auf:
Schließlich kommt sie einem Geheimnis auf die Spur, dessen Enthüllung ihren Untergang bedeuten könnte, doch sie ist fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden – koste es, was es wolle.

„Die Quelle der Existenz.
Abermals zog sie mich in ihren Bann, hypnotisierte mich,
verband sie sich mit mir – mit jeder einzelnen Faser meines Körpers
und es drängte sich mir die Frage auf,
welche Geheimnisse diese wundersame Substanz
tatsächlich in sich verbarg.“

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Die Anderen: Wer sind sie wirklich?

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Hat man uns die Wahrheit gesagt? 📚 

Die Augen meines Spiegelbildes

Unangenehmes Wiedersehen – Im Bann der Anderen 📚

Leseprobe: Anastasia im Bann der Anderen – Teil III der Saga

Das Blatt hatte sich gewendet

Die Wahrheit

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