(Gratis-Kapitel: Anastasia und die Quelle der Existenz Teil I)

Der grüne Schimmer

Irgendetwas Seltsames passierte mit mir, doch ich wusste nicht, was es war. Obwohl ich seit dem plötzlichen Umzug nach Longford die meiste Zeit über deprimiert und traurig gewesen war, fühlte ich mich andererseits stärker als je zuvor. Ich hatte so viel Energie in mir, dass ich nicht wusste, wohin damit. Es war nicht die Art von Energie, die meine Beine dazu bringen würden, schneller und kräftiger in die Pedalen zu treten, wenn ich Fahrrad fuhr. Nein, es war eine andere Art von Energie – was für eine, konnte ich mir jedoch selbst nicht erklären.
Die Gegend wurde mir immer vertrauter, ebenso unser Haus, die Natur um uns herum, einfach alles. Ich wollte es selbst nicht wahrhaben und versuchte, mit aller Macht dagegen anzukämpfen. Jedoch waren dieses innere Gefühl der Sicherheit und die Anziehungskraft dieses Ortes stärker. Innerhalb der gesamten sechzehn Jahre, die ich in meiner Heimatstadt Birmingham verbracht hatte, hatte ich nicht ein einziges Mal diese Art von Kraft und Sicherheit verspürt. Obgleich ich Longford eigentlich von Anfang an hasste, fühlte ich mich
hier von Tag zu Tag wohler, sicherer, stärker, vertrauter, so als wäre ich hier mit allem verbunden – in meinem eigenen Element. Dies änderte jedoch nichts daran, dass sich mir der Magen verdrehte, wenn ich daran dachte, dass mich heute mein erster Schultag an der Saint McSawyerson High School erwartete.

Mein Schrank war gähnend leer und schien mich zu verspotten, indem er mir bloß meine ältesten und hässlichsten Kleidungsstücke präsentierte. Von dem, was ich bis jetzt mitbekommen hatte, kleideten sich die Mädchen hier ziemlich stilvoll. Sie überlegten genau, welcher Rock zu welchen Schuhen und welches Top zu welchem Make-up passten – na ja, zumindest was Lena Hanson betraf. Ich dagegen trug meistens das, was am bequemsten war. Gemütliche Sneaker, ein lässiges Shirt und wenig Make-up (also so, wie Lena Hanson sich höchstwahrscheinlich niemals auf die Straße gewagt hätte). Ich schüttelte den Kopf und hätte mich selbst ohrfeigen können, dafür, dass ich es dieser Person wieder einmal erlaubt hatte, sich in meine Gedanken zu schleichen! Ich wusste nicht, warum ich eine solche Angst vor ihr hatte. Vielleicht weil sie auf eine unheimliche Art und Weise fies und unberechenbar zu sein schien? Im nächsten Augenblick fiel mir ein, dass Lena ein Jahr jünger war und demnach einen Jahrgang unter mir sein müsste. Ich atmete entspannt aus und beschloss, mich von nun an mit anderen Dingen zu beschäftigen als mit Lena Hanson (oder so wie Nathan Parker sie am vorigen Tag genannt hatte „bitchige Hexe“).
„Anastasia! In einer Minute fahren wir los!“
Die schrille Stimme meiner Mum ließ mich erschrocken zusammenfahren. Sie nannte mich nicht „Stacy“ – also war sie ziemlich wütend. Hektisch durchwühlte ich meinen Kleiderschrank. Ich suchte nach meinem Lieblingsshirt, doch konnte es nirgends finden. Scheinbar verbarg sich dieses immer noch in einem unserer noch nicht ausgepackten Umzugskartons. Ich verfluchte diese unorganisierte Familie und entschied mich für lässige Jeansshorts und eine pfirsichfarbene Bluse. Ich packte Block und Stifte in meinen Rucksack und stellte mich meinem Schicksal.

Auf dem Weg zur Schule wurde ich immer nervöser. Unruhig rutschte ich hin und her und wischte mir meine feuchten Handflächen immer wieder an den neuen Sitzbezügen unseres Jeeps ab. Jimmy dagegen schien es kaum erwarten zu können. Er hatte es leichter, da er in Tom Hansons Klasse ging und die beiden innerhalb kürzester Zeit fast schon wie die besten Freunde waren. Unser Dad fuhr an die Seite und unsere Eltern stiegen beide aus.
„Mum, Dad, wir können allein in die Schule gehen, wir sind alt genug!“ keifte ich sie an. Etwas Peinlicheres als im Alter von sechzehn Jahren von seinen Eltern ins Klassenzimmer begleitet zu werden, gab es in meiner Vorstellung nicht.
„Dort drüben stehen die Hansons. Gestattest du es uns, ihnen einen guten Morgen zu wünschen?“, fragte meine Mum dann mit ironischem Unterton. Sie warf einen Blick in den Autospiegel und fuhr sich mit der Hand durch die kurze blonde Mähne.
Meine Mum war wirklich hübsch. Sie war groß und schlank – ganz anders als ich. Jimmy und mein Vater waren ebenfalls groß und schlank. Ich war gerade mal 1,56 m groß. Von wem ich das hatte, war meinen Eltern angeblich genauso schleierhaft wie mir.
Die Hansons kamen uns entgegen, mit Tochter und Sohn im Schlepptau.
„Hallo Jimmy, hi Stacy“, begrüßte Tom uns herzlich.
„Guten Morgen“, setze Lena vornehm an. „Wir werden euch zum Unterricht begleiten und dafür sorgen, dass ihr euch hier an der Saint McSawyerson High School schnellstmöglich einlebt.“
„Das ist sehr hilfsbereit von euch, Lena“, entgegnete meine Mum begeistert. Die „Hexe“ grinste zufrieden.
„Folgt uns“, forderte sie uns auf. Wieder schenkte sie meiner Mum ihren süßesten Blick, bevor sie sich umdrehte. Dann schweifte ihr Blick hinüber zu Jimmy. Auch ihm schenkte sie ihr süßestes Lächeln, das zugleich ganz schön lasziv wirkte. Er ging sofort darauf ein und lächelte schüchtern zurück. So hatte ich meinen kleinen Bruder noch nie erlebt!
Vor der Schule und in den Gängen hielten sich die verschiedensten Schüler auf. Sie standen alle in Grüppchen da und jeder gehörte irgendwo dazu. Ob zu den Sportlern, den Strebern, den Freaks oder den Schönheitsköniginnen, die mit so hohen Absätzen und so kurzen Röcken zur Schule kamen, dass ich mich fragte, ob dies überhaupt erlaubt war. In anderen Teilen Großbritanniens waren Schuluniformen schließlich Pflicht!
Warum gerade an der Saint McSawyerson High School keine Schuluniformen getragen wurden, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erklären. Lena Hanson gehörte der Gruppe der Schönheitsköniginnen an. Sie war ohnehin schon eine Naturschönheit und unterstrich dies zusätzlich mit figurbetonter, knapper Kleidung und auffälligem Make-up. Auf dem Weg zum Unterrichtsraum tat sie, als wäre ich gar nicht da und unterhielt sich ausgiebig mit Jimmy.
„Da vorn rechts ist die Schulcafeteria und im ersten Stock befindet sich das Sekretariat.“ Während Lena meinen kleinen zwei Jahre jüngeren Bruder erfolgreich um den Finger wickelte, unterhielt ich mich mit ihrem Bruder Tom.
„Und bist du aufgeregt?“, erkundigte er sich.
„Ich weiß nicht, ein wenig ja“, gab ich unsicher zu.
„Stacy, das wird schon. Glaub mir, eines Tages wirst du dich hier wohler fühlen als nirgendwo anders sonst. Du gehörst hier her und wirst deinen Platz hier finden. Du wirst schon sehen.“ Er sah mich an, als wüsste er genau wovon er sprach. Die Sicherheit in seiner Stimme ließ mich erschauern und seine Worte hingen wie magisch zwischen uns in der Luft – so viel Wahrheit schien in ihnen zu stecken. Lena warf ihrem jüngeren Bruder einen beleidigten Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder meinem widmete.
„Also, hier trennen sich unsere Wege nun leider, aber ich bin mir sicher, dass wir uns hier noch oft genug über den Weg laufen werden. Bis bald, Jimmy.“
Wiederholt warf sie ihm diesen Blick zu, diesmal noch viel lasziver und anzüglicher als in Anwesenheit unserer Eltern!
Als unsere beiden Brüder weg waren, wandte sie sich schließlich mir zu und sagte mit strenger Stimme:
„Falls es bei dir immer noch nicht angekommen ist – wir werden niemals Freunde sein, unabhängig davon, was meine Eltern von mir verlangen. Anastasia.“
Meinen Namen betonte sie laut und langgezogen, um mir klarzumachen, dass sie mich niemals „Stacy“ nennen würde. Schwungvoll drehte sie sich von mir weg und ihr langes umherwirbelndes Haar hinterließ eine parfümierte Duftnote. Als befände sie sich auf einem Laufsteg, betrat sie mit langsamen, großen Schritten das Klassenzimmer. Mich ließ sie einfach so zurück, obwohl sie unseren Eltern versprochen hatte, mich zu meinem Klassenzimmer zu begleiten. Jetzt stand ich da, in diesem riesigen Schulkorridor voller tobender Schüler und hatte keinen blassen Schimmer, wo ich hin musste. Der Unterricht würde in wenigen Augenblicken beginnen und das Sekretariat befand sich im ersten Stock. Ich hatte wirklich nicht vor, mich bereits an meinem ersten Schultag zu verspäten! Da ich also keine andere Wahl hatte, folgte ich der wahrhaftig „bitchigen Hexe“ ins Klassenzimmer, um sie an ihr Versprechen zu erinnern.
Als ich den Raum betrat, starrten mich alle an. Einige Jungen blickten mir neugierig entgegen und einige Mädchen musterten mich misstrauisch und abschätzig, während andere ihren Kopf nach dem ersten kurzen Blick wieder desinteressiert senkten.
„Hallo, Stacy“, hörte ich eine freundliche Stimme neben mir. Es war Tina, die in der vordersten Reihe neben ihrem Freund Nathan saß. Scheinbar hatte Lena ihre Aufgabe doch erfüllt und dies war tatsächlich der richtige Klassenraum. Ich stellte mich dem Lehrer vor, worauf er bloß hektisch mit den Händen wedelte und ein unverständliches „Setzen Sie sich“ von sich gab.
„Ladies und Gentlemen, dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!“, schrie er dann so laut, dass ich zusammenzuckte. Da alle anderen Tische besetzt waren, setzte ich mich an den einzigen noch freien Tisch in der hintersten Reihe.
„Nur zu Ihrer Information, dieses Jahr werde ich keine Trödeleien dulden! Der Lernstoff wird vollständig und zügig durchgenommen – so wie es der Lehrplan verlangt! Ohne Wenn und Aber und ohne Ausnahmen! Und Zuspätkommer werden nach dem Unterricht eine Stunde nachsitzen!“ Alles war still. Niemand sagte etwas, niemand rührte sich. Mein neuer Lehrer durchforstete mit wachsamem Blick die Sitzreihen, bis er bei mir stoppte.
„Miss… ähm wie heißen Sie doch gleich?“, fragte er mich leicht verwirrt.
„Anastasia MacFountain“, murmelte ich.
„Wie bitte – ich kann Sie nicht verstehen?“
„Anastasia MacFountain“, wiederholte ich trocken.
Meine Kehle war wie zugeschnürt und die ganzen neugierigen Blicke auf mir verursachten bei mir Magenkrämpfe.
„Sie müssen schon lauter sprechen, wenn Sie gehört werden wollen. Gegenstand dieses Unterrichts in diesem Jahr ist das Rezitieren von Gedichten. Wer sich dabei nicht laut und deutlich genug artikulieren kann, fällt in diesem Kurs durch!“, schrie er laut auf, wobei ihm seine Brille mit den viel zu kleinen Brillengläsern die lange Nase herunterrutschte. Jetzt wusste ich, dass es sich bei diesem Lehrer nur um Mr Klawynski, dem „unerträglichen Englischlehrer“ handeln konnte. Unerwartet kündigte sich meine Rettung an: Jemand öffnete die Tür ohne anzuklopfen. Es war der unverschämte Typ von gestern – Jake Pearson! Ohne eine Entschuldigung für seine Verspätung und ohne seinem Lehrer auch überhaupt nur einen Funken von Beachtung zu schenken, spazierte er gemütlich durch den Raum, bis er vor meinem Tisch Halt machte.
„Du sitzt auf meinem Platz“, sagte er grinsend. Mit einem lauten Klatschen warf er seinen Rucksack auf den Tisch.
„Mr Pearson! Eine Stunde Nachsitzen fürs Zuspätkommen und eine weitere Stunde für ihr unglaubliches, immer wiederkehrendes und scheinbar unzähmbares, impertinentes Verhalten!“ Mr Klawynski sprach aus zusammengebissenen Zähnen und lief vor Wut rot an. Jake setzte sich auf den freien Stuhl neben mich, lehnte sich lässig nach hinten und zeigte keinerlei Reaktion. Er schaute dem Lehrer schweigend in die Augen und schmunzelte. Nach einigen Sekunden dann sagte er:
„Mr Klawynski, jetzt beruhigen Sie sich doch bitte.
Mein Fahrrad hatte ´nen Platten und außerdem ist heute der erste Schultag nach den Ferien. Da müssen Sie doch noch nicht solch harte Maßnahmen ergreifen, oder?“ Jake Pearson sah dem Lehrer ausdruckslos in die Augen. Einen Moment lang herrschte Stille. Mr Klawynski erwiderte den Blick seiner Schülers, schien jedoch wie abwesend. Irgendwie als wäre er für diesen Augenblick gar nicht da gewesen.
„Nun gut, ich denke, ich werde noch einmal über diese kleine Verspätung hinwegsehen können“, gab er dann sprunghaft nach. Er war wie ausgewechselt! Von Wut gab es keine Spur mehr. Seine Stimmung hatte von einer Sekunde auf die andere einfach umgeschlagen – er war wie die Ruhe in Person. Wie konnte er seine Meinung so urplötzlich wieder geändert haben? Ich blickte mich um, doch sah ich weder Überraschen noch Entsetzen in den Gesichtern. Es schien für alle hier normal zu sein, dass der Lehrer, der eben noch so verärgert gewesen war, dem wahrscheinlich unverschämtesten Schüler der gesamten Schule mal eben so sein unangebrachtes und respektloses Verhalten begnadigte! Ich suchte nach einer Antwort. Das Gesicht des unverschämten Typen strahlte vor Triumph und Selbstzufriedenheit.
„Nun schlagen Sie die Lehrbücher, Seite 22, auf und bearbeiten Sie die Aufgaben 1 bis 6.“ Mr Klawynski setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lehnte sich gemütlich nach hinten. Er schloss die Augen und schlummerte lächelnd vor sich hin.

Während der nächsten Minuten versuchte ich, ruhig an den Aufgaben zu arbeiten, doch ich konnte mich nur schwer konzentrieren.
„Was um Himmels Willen hast du mit ihm gemacht?“, fragte ich nach einer Weile.
„Was meinst du?“, entgegnete Jake unschuldig, als wüsste er nicht, worauf ich hinaus wollte.
„Du weißt genau, was ich meine. Er ist wie ausgewechselt. Hast du irgendetwas gegen ihn in der Hand, womit du ihn erpressen kannst oder hat deine Familie irgendeinen besonderen Einfluss hier in dieser Stadt?“ Er fing zu lachen an. Kurz darauf, als mir auffiel, wie paranoid sich das eigentlich anhörte, konnte auch ich mir ein peinlich berührtes Kichern nicht verkneifen.
„Man merkt, dass du hier neu bist“, bemerkte er. Dann schien er einen Moment zu überlegen, bevor er begann zu erklären. „Ich habe mit ihm das gemacht, was ich mit allen mache. Meinem Charme kann einfach keiner wiederstehen. So einfach ist das.“ Er schmunzelte selbstgefällig und wandte sich wieder seinen Aufgaben zu. Ich wusste nicht, ob er das tatsächlich ernst meinte oder ob er mich bloß verspottete. Daniel Sawyer, der gestern zusammen mit Tom Hanson und Jimmy Basketball gespielt hatte, saß zwei Tische von uns entfernt und sah Jake mit genervter Miene an. Er schüttelte langsam und unauffällig den Kopf. Jake quittierte das mit einem Schulterzucken und beachtete ihn nicht weiter.
„Pass auf“, sagte er dann erwartungsvoll. Mit seinem Lineal tippte er ein Mädchen an, das vor uns saß.
„Hey Justine, gibst du mir deine Ergebnisse?“
„Na klar doch, Jake.“ Ohne zu zögern überreichte das Mädchen ihm ihr Aufgabenblatt. Er drehte sich zu mir, zog die Brauen hoch und wies mich an: „Und jetzt pass noch einmal ganz genau auf.“ Er faltete das Aufgabenblatt zu einem Papierflugzeug, gab ihm einen Stoß und ließ es diagonal durch den Raum gleiten. Zu seinem Glück hatte Mr Klawynski ihn nicht bemerkt.
„Wow, ein Papierflieger“, kommentierte ich zynisch.
„So etwas können nur die wenigsten basteln.“ Ich hob meinen Rucksack an, kramte meinen Schreibblock hervor, riss ein Blatt heraus und versuchte, einen ebenfalls so perfekten Papierflieger zu falten wie er.
„Gut. Er ist vielleicht nicht so perfekt wie deiner. Trotzdem bist du nicht der einzige Mensch auf Erden, der ein Papierflugzeug basteln kann.“
Er fing wieder zu lachen an. Dann streifte er mir das Haar von der Wange, kam mit seinem Gesicht näher und flüsterte mir leise ins Ohr:
Das habe ich nicht gemeint.“ Ich spürte seinen Atem auf meinem Nacken und wie mein Herz schneller zu klopfen begann. Gleichzeitig spürte ich die verärgerten Blicke Lena Hansons, die am anderen Ende des Klassenraumes neben ihrer Freundin Brooke saß. Augenblicklich, drängte sich mir die Frage auf, warum sie schon in der 11. Klasse war, obwohl sie doch ein ganzes Jahr jünger war als ich.
„Ach ja, und was hast du dann gemeint? Du bist echt seltsam – weißt du das?“, keifte ich den unverschämten Typen an.
So langsam ging mir sein rätselhaftes Verhalten erheblich auf die Nerven. Ich fühlte mich von ihm auf den Arm genommen und es widerstrebte mir, meine Zeit damit zu verschwenden. Außerdem wollte ich Lena Hanson weder provozieren noch reizen, also hielt ich mich lieber fern von diesem Jake Pearson. Ich wandte mich wieder den Aufgaben zu, doch spürte noch seinen hartnäckigen Blick auf mir.
„Ich weiß, dass ich seltsam bin. Und das wohl besser als jeder andere. Ich zeig dir, was ich meinte.“ Der rätselhafte Junge neben mir überlegte wieder einen Moment und nuschelte leise etwas vor sich hin. Ich konnte nicht genau verstehen, was er sagte, doch es hörte sich in etwa an wie:
„Du hast es ja nicht anders gewollt.“ Er setzte seinen Ellbogen auf der Tischplatte ab und stützte seinen Kopf in die Hand. Dann nahm er meinen unproportioniert gefalteten Papierflieger in die andere Hand, zielte genau auf Mr Klawynski, nahm etwas Schwung und ließ ihn durch die Luft gleiten. Ich konnte es nicht glauben, denn mit dieser Aktion würde er sich diesmal wirklich in Schwierigkeiten bringen! Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass Mr Klawynski darüber auch noch hinwegsehen würde. Die Spitze des Papierfliegers traf Mr Klawynskis Stirn. Er erwachte aus seinem Nickerchen und als er den Papierflieger sah, fing die Wut in ihm wieder zu tosen an.
„Wer zur Hölle war das, ihr kleinen, nichtsnutzigen, undankbaren Schmarotzer!“
„Sag ihm, dass du es warst“, flüsterte Jake mir zu. Ich zuckte zusammen und glaubte, mich verhört zu haben. Als er feststellte, dass ich nicht reagierte, wiederholte er seine Aufforderung.
„Soll das ein Scherz sein?“, schoss es aus mir heraus. Da war sie wieder: Meine innere Stimme, diese innere Kraft, die mich vor den unverschämten und absurden Aufforderungen dieses mysteriösen Jungen namens Jake Pearson beschützte. Ich spürte wieder, wie das Blut in mir immer schneller zu zirkulieren begann, sich meine Sinne schärften und sich Energie in mir auflud – eine seltsame Kraft, die sich in mir ausbreitete in jeder einzelnen Faser meines Körpers, bis ins letzte Glied. Genauso wie bei unserer ersten Begegnung, als er mich aufgefordert hatte, ihm seinen Ball zurückzubringen! Jake sah mir tief in die Augen und wisperte mit ruhiger Stimme: „Nein, das meine ich todernst. Sag ihm, dass du es warst.“ Dies sollte wirklich kein Scherz sein – er schien es tatsächlich ernst zu meinen!
„Du spinnst doch. Und das war das, was du mir zeigen wolltest?“, fragte ich unglaubhaft. „Ich war das nicht und werde mit Sicherheit nicht lügen und an meinem ersten Schultag negativ auffallen, nur um dich zu decken!“, fuhr ich ihn an. Meine Schüchternheit verflog, jetzt war ich richtig geladen.
Plötzlich starrten mich alle an. Tina und Nathan, Lena und ihre Freundin Brooke. Außerdem Daniel, der erneut den Kopf schüttelte, jedoch diesmal nicht mit genervter, sondern mit ernster Miene.
Jake warf jedem seiner Freunde hintereinander einen verdatterten Blick zu. Dann kramte er hektisch in seiner Federtasche herum. Ein eigenartig grüner Schimmer trat aus dieser heraus. Der anziehende grüne Schein erinnerte mich an Lena Hansons Amulett. Als Jake bemerkte, dass mein Blick auf seiner Federtasche lag, zog er ihren Reißverschluss schnell wieder zu und sagte nachgiebig:
„Es tut mir leid, Mr Klawynski. Ich bin es gewesen. Bitte seien Sie nicht verärgert. Ich werde nach dem Unterricht die Tafel wischen.“

Nach dem Unterricht konnte ich beobachten, wie sich die Clique von Jake auf dem Innenhof um ihn herum versammelte und ihn mit verwunderten Gesichtern fixierte. Alle redeten so sehr auf ihn ein, dass man nichts verstehen konnte. Er stand bloß wie versteinert da, sah irgendwie niedergeschlagen aus. Ich saß ein paar Meter weiter auf einer Bank und versuchte vergebens, in den unzähligen Schülermassen Jimmy zu finden. Plötzlich stampfte Lena Hanson aufgebracht davon – gefolgt von Jake Pearson. Ich schlug ein Buch auf und versteckte mein Gesicht dahinter.
„Wir sind kein Paar mehr, Lena. Du hast mit mir Schluss gemacht, falls ich dich daran erinnern darf. Weil du es genauso wie ich leid warst, diese Show abzuziehen. Du warst diejenige, die sich letztes Schuljahr in jedem Fach ans andere Ende des Klassenraums gesetzt hat. Seitdem hab´ ich nur noch Scheißnoten! Du weißt, dass meine Versetzung letztes Jahr gefährdet war?“
„Und das soll jetzt meine Schuld sein? Schon mal daran gedacht, was für deine Noten zu tun und zu lernen – so wie alle anderen hier, Mr Charming?“, gab Lena hitzig zurück. Jake schmunzelte bissig. Danach musterte er Lena mit verächtlich herabgezogenen Lippen.
„Das musst du gerade sagen, Miss Jahrgangsbeste. Das ich nicht lache.“
„Pssst! Beruhige dich und schrei hier nicht so rum“, ermahnte sie ihn, während sie sich den Zeigefinger vor die Lippen hielt. „Eines Tages wirst du uns noch alle verraten. Weil du davon besessen bist, dass dir die ganze Welt zu Füßen liegt, kannst du es einfach nicht lassen. Und wenn es so weit ist, dann wird man uns gar nichts mehr erlauben.“ Lena zog sich eine dunkelrote Lederjacke über und lief mit großen, aufgeregten aber immer noch graziösen Schritten davon. Ich versuchte, mich weiterhin hinter meinem Buch zu verstecken, bis ebenfalls Jake gehen würde. Doch Jake rührte sich nicht von der Stelle. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte Löcher in die Luft. Der Himmel färbte sich grau und es fing zu nieseln an. Die Schüler verließen in Massen den Schulhof. Da sie mir bald keinen Schutz mehr bieten konnten, um mich vor Jake zu verstecken, überlegte ich, wie ich unbemerkt an ihm vorbei kommen würde. Ich zog mir unauffällig die gelbe Regenjacke über, die mein Dad mir heute früh noch in die Tasche gestopft hatte, da der Wetterbericht Regen angekündigt hatte. (Jeden Morgen sah er sich den Wetterbericht an, um uns anschließend auf die passende Garderobe hinzuweisen.
Er hegte ein unheimliches Interesse für Meteorologie – das war irgendwie eines seiner seltsamen Hobbys.)
Damit Jake, der nun immer noch regungslos da stand, mich nicht erkennen würde, setzte ich meine Kapuze auf und folgte einigen Schülern. Der Regen schien ihn nicht zu stören. Noch Minuten, nachdem der Innenhof wie leer gefegt war, stand er da. Ein greller Blitz leuchtete am Himmel auf, doch Jake verharrte immer noch in vollkommener Reglosigkeit.

Am Nachmittag versuchte ich, mir noch einmal über die Geschehnisse in der Schule klar zu werden. Immer wieder ließ ich meine Gedanken rotieren und bemühte mich, für alles eine plausible Erklärung zu finden. Jake Pearson schien es allem Anschein nach gewohnt zu sein, dass ihm die ganze Welt zu Füßen lag und all das tat, was er mehr oder weniger von ihr wünschte. Dass die Mädchen ihn vergötterten und ihm mal den einen oder den anderen Gefallen taten, konnte ich nur zu gut nachvollziehen. Aber Mr Klawynski war doch kein junges, naives, schwärmendes Mädchen! Umso merkwürdiger erschien es mir, dass er dermaßen inkonsequent war und Jakes unverschämtes Verhalten billigte. Sicherlich konnte dieser Jake Pearson charmant sein, wenn er nur wollte. Doch einzig und allein Charme war doch nicht dazu im Stande, Derartiges zu bewirken, oder? Mr Klawynski war nicht einmal wütend wegen des Papierfliegers gewesen. Zumindest nicht als er erfuhr, dass dieser von Jake stammte. Vielleicht machte ich mir aber auch einfach nur zu viele Gedanken und alles war nur ein Zufall.
Warum aber war Jake der festen Überzeugung, ich würde mich für ihn aufopfern und ihn vor Mr Klawynski decken und warum war er so empört, als er feststellten musste, dass ich es nicht tat? Ihm hätte doch klar sein müssen, dass ich sicherlich nicht vorhatte, an meinem ersten Schultag nicht negativ auffallen! Und warum waren all seine Freunde nach dem Unterricht ebenfalls so überrascht und aufgebracht gewesen? Was hatte der seltsame Streit von „Mr Charming“ und der „bitchigen Hexe“ oder wie er sie nannte „Miss Jahrgangsbeste“ zu bedeuten? Was war das für ein merkwürdiger grünlicher Schimmer, der aus seiner Federtasche herausgetreten war und warum versuchte Jake, diesen vor mir zu verstecken? Ich wurde nicht schlau aus diesem Jungen und schon gar nicht aus Lena Hanson. Ich konnte nicht einmal verstehen, warum ich mir überhaupt solche Gedanken darüber machte. Eigentlich konnte es mir doch egal sein – sie sollten mir egal sein. Vor den Hansons und meinen Eltern würde ich vorgeben, mich gut mit Lena Hanson zu verstehen, dann wäre sie zufrieden, würde mich in Frieden lassen und ich würde mir einfach andere Freunde suchen.

„Und, wie war euer erster Schultag?“, wollten unsere Eltern während des Abendessens wissen.
„Meiner war echt cool“, verkündete Jimmy zufrieden.
„Meiner war seltsam“, murmelte ich hingegen betreten. Sofort blickten meine Eltern einander besorgt entgegen.
„Keine Sorge“, sagte ich, um sie zu beruhigen und um mir nervige Fragen zu ersparen.
„Mir geht’s gut. Es war nur alles… irgendwie ziemlich…“, einen Moment lang versuchte ich, die passenden Worte für das zu finden, was sich an jenem Tag ereignet hatte.
„Mysteriös“, fügte ich schließlich hinzu, da ich keine bessere Umschreibung dafür fand. Während meine Mum weiterhin besorgt schien, wirkte mein Dad plötzlich irgendwie verärgert.
„Ich gehe zu Bett, bin müde“, kommentierte er wortkarg, räumte seinen Teller vom Tisch und schritt davon, als würde er es keine Sekunde länger mit uns an einem Tisch aushalten.

„Was ist mit ihm?“, fragte Jimmy perplex.
„Nichts“, meinte unsere Mum dann. „Er hat es einfach nicht leicht. Wir alle haben es nicht leicht.“ Sie starrte betrübt auf ihren Teller und stocherte mit der Gabel in ihrem Salat herum. Jimmy und ich tauschten untereinander fragende Blicke aus. Dann räumte er seinen Teller ebenfalls ab und verließ die Küche.
„Ich geh dann auch mal ins Bett, gute Nacht, Mum, Nacht, Stacy.“
Doch mich ließ das, was unsere Mum gesagt hatte nicht so kalt wie Jimmy. Der Ausdruck in ihren Augen verriet mir, dass es nicht eine ihrer üblichen Predigten sein sollte, in denen sie sich darüber beschwerte, wie schwer sie es doch mit uns allen hatte. Nein, dieses Mal war es anders: Es fühlte sich an, als versuchte sie uns zu warnen. Als wollte sie uns bedeuten, dass wir auf der Hut sein und auf uns Acht geben sollten. Dass schwierige Zeiten anbrechen würden und sich ein Finsteres Unheil vor uns verbarg, das uns früher oder später Heim suchen würde. Vielleicht ging aber auch bloß meine blühende Fantasie mit mir durch.
„Ich bin mir sicher, dass du dich hier schon sehr bald einleben wirst. Selbst, wenn es für dich so scheint, als würden hier ‚mysteriöse‘ Dinge vor sich gehen. Alles wird sich aufklären, versprochen.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und begann den Tisch abzuräumen. Und als käme mir der Tag nicht schon merkwürdig genug vor, beschlich mich erneut das Gefühl, als ginge hier etwas wirklich Schräges vor sich. Zum ersten Mal seit langer Zeit schienen alle Differenzen und Spannungen zwischen meiner Mum und mir wie weggeblasen.

Als ich mich ins Bett legte, fand ich weiterhin keine Ruhe. Entweder war ich paranoid und ich nahm die Geschehnisse des Tages einfach nur falsch auf oder es bahnte sich hier tatsächlich etwas Mysteriöses an. Etwas, wovon ich noch lange nichts ahnen konnte. Etwas, was womöglich den Rahmen meiner Vorstellungskraft sprengen und mein derzeitiges Weltbild komplett auf den Kopf stellen würde.

 

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Die sechzehnjährige Anastasia (Stacy) zieht unerwartet in die Kleinstadt Longford. Doch mit der Stadt und ihren Stadtbewohnern scheint etwas nicht zu stimmen. Diese seltsamen Blicke, eine Clique, die sich ihr gegenüber ziemlich fragwürdig verhält und diese allumfassende Energie, die sie hier verspürt.
Was ist das für ein grüner Schimmer und was hat es eigentlich mit den „Anderen“ auf sich, die auf die andere Seite der Stadt verbannt wurden?

Die Antworten auf Stacys Fragen lassen nicht lang auf sich warten, jedoch werfen diese nur noch weitere Fragen auf: Schließlich kommt sie einem Geheimnis auf die Spur, dessen Enthüllung ihren Untergang bedeuten könnte, doch sie ist fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden – koste es, was es wolle.

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