Ausflug an die "frische" Luft - der angewöhnte Bogen
Berlin, 22.03.2020, 13:58

Ich schließe die Tür – mit einem kräftigen Ruck ziehe ich am im Schlüsselloch steckenden Schlüssel, um nicht den Türknauf berühren zu müssen (obwohl ich den Türknauf  seit Langem nicht mehr berührt habe und das mit großer Wahrscheinlichkeit auch sonst niemand getan hat.)
Langsamer als gewohnt steige ich die Treppen hinab. Ganz in Ruhe, ohne Eile, ohne Termindruck. Unten angekommen mache ich vor der nächsten Tür Halt.
Ich öffne sie mit dem Ellenbogen. Dabei stelle ich mich etwas blöd an – heute ist es kalt und ich habe mich nach Zwiebelprinzip gekleidet, sodass mein Arm unter der Jacke etwas dicker ist. So richtig bekomme ich die Klinke nicht runter – erst beim dritten Versuch, da ich gleichzeitig mit dem Fuß die Tür in meine Richtung drücken muss, um sie aufzubekommen, ohne sie mit den Händen zu berühren. Einen Moment lang, hoffe ich, dass mich niemand dabei beobachtet hat. Eine halbe Sekunde später verwerfe ich diesen Gedanken wieder: Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür, dass einem Derartiges peinlich sein muss und vielleicht nimmt sich ja jemand ein Beispiel daran.
Ein kalter aber belebender Luftschwall schlägt mir entgegen. „Frische Luft“, denke ich mir, nachdem ich den ganzen Tag, wie die meiste Zeit über, in der kleinen knapp 30-qm-Wohnung gehockt habe. Nur den Bruchteil einer Sekunde später stelle ich fest, wie absurd das ist: In dieser Großstadt gibt es keine „frische Luft“ und erst recht nicht, wenn man an einer voll befahrenen Hauptstraße wohnt – auch wenn sie momentan etwas leerer ist als sonst. Irgendwie muss ich grinsen, obgleich das eigentlich überhaupt kein Grund zum Grinsen ist – wohl eher einer zum Heulen.
Mein Weg wird von einem älteren händchenhaltenden Paar gekreuzt. Ich weiche aus und mache einen größeren Bogen. Kurz darauf laufen mir zwei Jogger entgegen: Achtlos rauschen sie an mir vorbei, schwitzend und schwer atmend. Einer von ihnen mit nur wenigen Zentimetern Abstand. Ich habe keine Chance, um einen Bogen zu machen, mich an die Seite zu stellen, ihm auch nur ansatzweise auszuweichen. Ich drehe mich um und werfe ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, obwohl ich weiß, dass er ihn ohnehin nicht registrieren wird. Ich sehe, wie er ebenso achtlos an anderen Passanten vorbeirauscht – als gäbe es keinen Morgen. Der Abstand augenscheinlich fast noch geringer als zu mir.
Ich setze meinen Weg fort. Ein nächstes, diesmal jüngere Paar kommt mir entgegen und ich mache wieder den Bogen, den ich mir bereits angewöhnt habe. Dankend nicken mir beide zu (sie hätten ja auch einen Moment hintereinander laufen können, damit ich nicht ausweichen muss). Doch auszuweichen und einen Sicherheitsabstand zu halten, macht mir überhaupt nichts aus und ist für mich mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Ich lächle freundlich zurück.
An dem kleinen Park am Ufer der Spree angelangt sehe ich zwei Personen die Treppen hinaufsteigen. Sie scheinen kein Paar zu sein, doch sich zu kennen. Mein rechter Fuß schwebt über der ersten hinabführenden Stufe, doch ich zögere. Ich sehe, dass der Abstand zwischen mir und einer der beiden Personen viel zu klein wäre. Beide erkennen unschwer, dass ich hinunter möchte, doch keiner macht Platz für mich. Ich stelle mich also an die Seite und warte bis beide oben sind, was mir wie immer nichts ausmacht. Ich habe Zeit – ich kann mich nicht daran erinnern, wann in meinem Leben ich so viel Zeit zur Verfügung hatte. Mit einem seltsamen Blick mustern sie mich, ein wenig so als würde ich übertreiben oder gar als wäre ich völlig übergeschnappt, danach sehen sie einander grinsend an. Ich vernehme noch ein Kichern hinter mir und steige die Stufen hinab. In meinem Kopf rumort es.

 

Bild von Felix Wolf auf Pixabay
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