Erinnerungsverlust: Die Erinnerung ist ein Teil von dir

Kurzroman: Bitte gib mir meine Erinnerung zurück!

Auszug aus Kapitel 3 – Die vertrauten Augen

„Ich hol´ uns mal Getränke. Haltet den Platz für mich frei!“, schrie Tobi uns an. Bei der Lautstärke und dem starken Bass hatte er auch keine andere Wahl. Er begab sich zur Bar, während Katrin und ich verzweifelt darum kämpften, in der aufgeheizten Menge zu überleben und Tobi seinen Tanzplatz freizuhalten.
Diese Veranstaltung war wie üblich viel zu überfüllt und wenn in unserer Kleinstadt eine Party stattfand, konnte sich das natürlich niemand entgehen lassen. Sei es auch nur für eine halbe Stunde – einfach jeder schaute vorbei, um kurz ein paar alte bekannte Gesichter anzutreffen, den neusten Klatsch und Tratsch aufzuschnappen oder selbst welchen zu verbreiten oder um einfach bloß gesehen zu werden.
Ich war bereits ziemlich angetrunken. Schon zu Hause hatte ich mit dem Trinken begonnen und den teuren Rotwein meiner Mutter geköpft, um meinen Streit mit Richard und den damit verbundenen Frust zu verdrängen. Dass nun Ärger seitens meiner Mutter vorprogrammiert war, war mir bewusst. Nach einigen Charthits kam Tobi mit drei Gläsern in den Armen zurück.
Da Katrin und Tobi gern einen über den Durst tranken und unseren ersten gemeinsamen „Eskalationsabend“ nach langer Zeit sehr zu genießen schienen, waren sie sicherlich weder gewillt noch in der Lage, meine Trinkerei zu zügeln und Acht darauf zu geben, dass ich es heute damit nicht übertrieb. Das war mir nur ganz recht – ich wollte mich einfach bloß amüsieren, denn ich hatte irgendwie das Gefühl, dass dies schon lange überfällig war. Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas und stellte fest, dass Tobi mir ein Glas mit schlichtem Sprudelwasser gebracht hatte.
„Ernsthaft?“, fragte ich verständnislos und griff nach dem Glas in Tobis Hand. Ich nahm einen Schluck und schmeckte einen starken Gin Tonic.
„Ich dachte, du trinkst keinen Alkohol?“, sagte Tobi fragend. Ich drückte ihm mein Wasserglas in die Hand und quittierte seine seltsame Aussage mit einem bissigen Blick.
„Hab´ ich was verpasst?“, fügte er dann hinzu und blickte dabei zu Katrin rüber. Sie zuckte mit den Schultern und beide sahen mich mit einem seltsam prüfenden und sorgengetränkten Blick an.
„Ich brauch´ keinen Babysitter!“, sagte ich halb genervt und halb amüsiert über ihr skurriles Verhalten. Mit einem Zug leerte ich mein Glas und heuerte Tobi an, uns weitere Getränke zu besorgen. Sobald Tobi weg war, waren Katrin und ich wie Frischfleisch auf dem Markt und zwei Typen gesellten sich zu uns. Katrin sah mich noch einen Moment überprüfend an, doch ließ sich dann schnell – und wie nicht anders erwartet – von einem der beiden in ein Gespräch verwickeln und hatte fortan nur noch Augen für ihn. Natürlich wusste er nicht, dass sie seit circa einem Jahr in festen Händen war, doch das Flirten ließ Katrin sich nicht nehmen. Der andere Typ lächelte mich verschmitzt an und ich lächelte instinktiv zurück. Er war groß, ziemlich gut gebaut, hatte dunkelblondes gelocktes Haar und hatte eisblaue Augen. Er trug eine lässige Jeans im Used-Look, dazu angesagte Sneakers und ein enges T-Shirt, das seine Muskeln betonte. Auf seiner Stirn stand förmlich „Badboy“ geschrieben, doch das war mir gleich.
Ich fühlte mich unwiderstehlich zu ihm hingezogen – wie ein Magnet. Im Prinzip war er das absolute Gegenteil von Richard. Richard war eher der Romantiker. Ein bodenständiger, ruhiger Kerl, der auch optisch eher unscheinbar war und den Samstagabend lieber früh zu Bett ging, anstatt sich auf – um es in seinen Worten auszudrücken – „oberflächlichen Veranstaltungen“ wie diesen aufzuhalten. Wie ich so darüber nachdachte und diesen Vergleich anstellte, drängte sich mir die Frage
auf, warum ich eigentlich mit jemandem wie Richard zusammen war, da er doch so gar nicht in mein eigentliches Beuteschema passte. Tatsächlich stand ich auf selbstbewusste, freche und auffällige Männer, die von einer gefährlichen Aura umgeben waren. Frauen wollen doch auch bekanntlich wilde Hengste zähmen und nicht auf Ponys reiten, oder nicht? Zumindest hatte ich diesen Spruch mal irgendwo aufgeschnappt.
Von jemandem wie diesem Typen vor mir fühlte ich mich ironischerweise bei weitem mehr angezogen als von meinem eigenen Freund. Wir redeten nicht miteinander, sondern begannen uns synchron zum Rhythmus des Beats zu bewegen. Ich musste lachen und er zog mich zu sich. Er umschlang meine Hüfte und wir begannen eng miteinander zu tanzen. Bereits jetzt verstieß ich gegen meine moralischen Grundprinzipien. Ich hatte mich zwar mit Richard gestritten und er hatte mich heftig zum Weinen gebracht, doch das bedeutete für mich noch lange keinen Freifahrtschein, hier mit anderen Männern herumzuflirten oder gar zu tanzen.
Dennoch ließ ich es aus einem mir unerklärlichen Grund zu und genoss es. Ich wusste weder, ob Katrin sich noch in unserer Nähe befand und sich immer noch mit ihrer Bekanntschaft unterhielt, noch wo Tobi war. Wahrscheinlich wurde er irgendwo unterwegs aufgehalten und spendierte nun irgendwelchen anderen seiner vielen Freundinnen ein paar Drinks.
Mir konnte das nur recht sein, so konnte ich mich ungestört mit Mr. Badboy ablenken und vergnügen. Die Zeit verflog und wir tanzten bereits eine ganze Weile miteinander. Die Hände dieses Typen – dessen Namen ich nicht einmal kannte – wanderten immer mal in die Tiefe hinunter zu meinem Hintern.
Zu Anfang drängte ich seine Hände zurück nach oben, doch irgendwann ließ ich es einfach zu. Das Material meines Kleides war so hauchdünn, dass ich jede seiner Berührungen ganz intensiv vernahm. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so in Schale geworfen: Ich trug ein gefährlich kurz geschnittenes Kleid mit tiefem V-Ausschnitt, das sich wie eine zweite Haut um die meinige schmiegte.
Es war von einem matt glänzenden Schwarz und wurde in Taillenhöhe wie ein verführerisches Geschenk von einer seidenen Schleife umschlungen. Die ohnehin schon so großen Kulleraugen mit den langen Wimpern hatte ich zusätzlich mit reichlich Wimperntusche und dunklem Lidschatten betont. Dazu die offene, blonde Mähne und der knallrote Lippenstift. Ein Klassiker.
Kein Wunder, dass der Typ seine Finger nicht von mir lassen konnte. Während auf seiner Stirn nämlich „Badboy“ geschrieben stand, prangten auf meiner in neonfarbenen Lettern die Worte „Na los Jungs, kommt schon! Traut euch! Tanzt mich an!“. Er probierte natürlich noch weiter zu gehen und mich zu küssen, doch um einen Kuss abzuwehren, blieb mir noch ausreichend Selbstbeherrschung. Ganz gleich in welcher Situation man sich gerade befindet, ganz gleich, was auch passiert sein mag, ob ein heftiger, fieser Streit mit dem Partner stattgefunden hatte, ganz gleich, wie viel man getrunken hatte – nichts auf dieser Welt rechtfertigte für mich ein Vergehen wie Untreue. Schlimm genug und äußerst unbegreiflich war es ohnehin schon für mich, dass einige etwas wie einen Kuss gar nicht als Seitensprung oder Fremdgehen ansahen.
Ich war extrem wütend auf Richard, weshalb ich mich jetzt in dieser unangebrachten Situation befand. Ich fühlte mich unbeschreiblich hingezogen zu dieser Person, warum war mir schleierhaft, doch ich würde stark bleiben und weiterhin bloß ein wenig mit ihm tanzen. Katrin und Tobi waren wie immer vollkommen zugedröhnt und die Leute um uns herum ebenso. Also ging ich davon aus, dass mein kleines Geheimnis nie herauskommen würde. Tja, falsch gedacht – aber das wäre auch zu einfach gewesen. Unerwartet zog mich jemand von meinem Tanzpartner weg. Ich stolperte und verlor das Gleichgewicht, worauf mich die unbekannte Person auffing. Ich fuhr zu der Person herum und kassierte sofort einen zutiefst verurteilenden Blick.
„Sag mal, ist das eigentlich dein Ernst? Erst willst du mich nicht mitnehmen und dann tanzt du mit einem Kerl, der genauso aussieht wie dein Exfreund? Schlimm genug, dass du überhaupt mit ´nem anderen tanzt, aber muss es denn unbedingt jemand sein, der Christians Zwillingsbruder sein könnte?“ Richard umklammerte meine Arme so fest, dass es wehtat.
„Du tust mir weh!“, schrie ich ihn an und versuchte ihn von mir abzuschütteln, wobei mir etwas aus der Handtasche rollte.
„Nein, Ella. Du tust mir weh! Kannst du mir das Ganze hier bitte erklären? Warum bist du so gleichgültig geworden?“ Ich wollte aufheben, was ich verloren hatte, doch Richard war schneller als ich. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das scheinbar leere Fläschchen in seiner Hand. „Erinnerung an Christian Stark?“ Verwirrt blickte er mich an. „Und was hat das bitteschön zu bedeuten?“ Aufgebracht fuchtelte er mit dem Fläschchen vor meiner Nase herum und zeigte dabei mit dem Finger auf den darin eingravierten Schriftzug.
Das Fläschchen hatte ich aufgrund unseres Streits und meines überdurchschnittlichen Alkoholpegels ganz vergessen. Und dabei hatte ich es mit der Absicht eingepackt, Katrin und Tobi darauf anzusprechen.
„Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht! Ich weiß nicht, was das ist!“, rechtfertigte ich mich die Hände beschwichtigend in die Höhe hebend. „Ich bin ganz schön verwirrt. Alles fühlt sich auf einmal so seltsam an… seit heute Morgen“, fügte ich dann noch hinzu. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich konnte mein Verhalten selbst nicht nachvollziehen. Augenblicklich überkam mich ein schlechtes Gewissen Richard gegenüber. Mit dem Typen getanzt zu haben bereute ich seltsamerweise dennoch nicht. Es war, als hätte ich das getan, weil ich es unbedingt tun wollte. Als wäre mein Inneres darauf programmiert, dass ich genau diese Erfahrung machen wollte. Die Erfahrung einen Badboy wie diesen kennenzulernen und ihm näher zu kommen.
„Was meinst du mit Exfreund?“, fragte ich dann. Ich wusste nicht, von welchem Exfreund Richard da sprach. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je einen anderen Freund als Richard gehabt zu haben. Abgesehen von Dorian Gerstenberger damals in der siebten
Klasse, der heute zu einem verpickelten Nerd mutiert war.
„Du weißt genau, was ich meine, Ella! Aber weißt du was? Mach einfach, was du willst! Ich bin raus und stehe dir nicht länger im Weg! Christian ist übrigens auch hier – so wie ich es vorausgesehen habe. Wirf dich doch gleich am besten auch noch ihm an den Hals! Ab heute bist du wieder frei!“ Ohne mir die Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen oder ihn zu überreden, zu bleiben, warf er mir das Fläschchen zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge. Ich wollte ihm hinterher, doch die Menschenmasse schloss sich sofort wieder und in meinem benebelten Zustand würde ich ihn nicht wiederfinden.
Hilflos stand ich da, mit diesem seltsamen Ding in meiner Hand und fragte mich, ob das alles irgendein gut inszenierter, aber äußerst seltsamer und ziemlich geschmackloser Streich war, vielleicht ein Aprilscherz. Katrin und Tobi schienen über alle Berge zu sein und die tanzenden Leute um mich herum rückten immer näher und alle paar Sekunden rempelte mich jemand an, weil er entweder vorbeiwollte oder vollkommen dicht war und mit geschlossenen Augen tanzte.
Ich hatte die Nase voll, quetschte mich durch den tanzenden Mob und lehnte mich an eine Wand an. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hatte exzessiv mit einem anderen getanzt, obwohl dies eigentlich überhaupt nicht meine Art war und Richard hatte soeben mit mir Schluss gemacht.
Er hatte irgendetwas von einem Exfreund gefaselt. Christian Stark. Es war mir immer noch ein Rätsel, wer dieser Christian war und warum plötzlich jeder von ihm sprach. Handelte es sich bei ihm vielleicht um jemanden aus meiner Vergangenheit, jemanden, der mir einst nahe gestanden hatte oder um eine peinliche Jugendsünde, an die ich mich, warum auch immer, nicht mehr erinnern konnte? Ich öffnete wieder die Augen und wollte gerade mein Handy aus der Tasche kramen, um Katrin und Tobi zu schreiben, als meine Augen wie magisch an einem Typen kleben blieben, welcher nur wenige Meter von mir entfernt am Tresen stand.
Er sah mich an, mit einem Blick, der mich erschaudern ließ. Ich kannte ihn nicht, war mir aber sicher, ihm irgendwann schon einmal begegnet zu sein, ich wusste nur nicht, wann und wo und in welchem Zusammenhang. Krampfhaft versuchte ich, mich an etwas zu erinnern, irgendwelche Informationen aus meinem Gehirn abzurufen, doch es war wie betäubt. Abermals übermannte mich das Gefühl, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Möglicherweise bildete ich mir das alles auch bloß ein, wahrscheinlich hatte ich diesen Kerl nie zuvor gesehen und maß seinem Blick mehr Bedeutung bei, als ich es musste.
Doch diese Augen. Sie waren voller Neugierde und Freude, doch gleichzeitig verrieten sie tiefe Reue und Schmerz. Ungezügelte Emotionen strahlten mir entgegen, während mir dieser Typ unverwandt in die Augen blickte. Für einen kurzen Moment über blinzelte ich verlegen auf mein Handydisplay, doch nach nur wenigen Millisekunden wanderte mein Blick wie durch Zauberhand wieder in seine Richtung.
Er sah mich immer noch an. Ich musterte ihn von oben bis nach unten und wieder zurück und stellte fest, dass er dem Typen, mit dem ich soeben getanzt hatte, zum Verwechseln ähnlich war. Na ja, vielleicht hatte er ein hübscheres Gesicht, schönere Augen und eine anziehendere, vertrautere Aura. Die tanzende Meute schien sich in immer langsamer werdender Zeitlupe zu bewegen und die Musik hörte sich deutlich gedämpfter und nur noch verzerrt an.
Alles begann sich irgendwie zu drehen wie in einem Karussell und zusätzlich entflammte in mir eine innere, beinahe schon unerträgliche Sehnsucht. Ich hatte zwar keinen blassen Schimmer wonach, doch ich wusste, dass diese Sehnsucht real war und ich sie mir nicht einbildete. Fortwährend starrte dieser Typ mich an. Jemand anders hätte ihm vielleicht längst den Mittelfinger ausgestreckt oder ihn mit ironischem Unterton gefragt, ob er nicht ein Foto schießen wolle, doch ich blieb wie erstarrt stehen.
Auf eine unerklärliche Weise berührte sein Blick mich. Einerseits strich er mir ganz zart mit den Fingern über das Herz und gleichzeitig umschlang er es ganz fest und schüttelte es, als wollte er damit irgendeine Reaktion in mir hervorrufen. Es war, als verbanden sich unsere Blicke auf interdimensionaler Ebene miteinander und als versuchten sie miteinander zu kommunizieren.
Ich konnte diese Sprache nur nicht ganz verstehen oder decodieren. Mein Herz schlug ganz aufgeregt und wild. Es freute sich ganz offensichtlich über die Anwesenheit und gleichzeitig über das augenscheinliche Interesse dieses Menschen – jedoch auf eine obskure, ungewohnte und mir unbegreifliche Art und Weise.
„Wie lange wollt ihr einander noch anglotzen?“, ertönte eine Stimme rechts von mir. Es war Katrin.
„Komm wir gehen weg von hier.“ Sie legte ihren Arm um meine Schulter und versuchte, mich von hier wegzuschieben.
„Jetzt fang bitte nicht wieder an zu heulen, Ella. Du weißt, dass ich es nicht ertragen kann, dich weinen zu sehen“, ertönte eine zweite Stimme an meiner Linken. Tobi nippte an seinem Glas und blickte mich mit mitleidigem Blick durch seine eckigen Brillengläser hindurch an.
„Ähm, warum sollte ich weinen?“, fragte ich perplex. In genau diesem Augenblick klappte Tobi die Kinnlade herunter. [ …]

Bitte gib mir meine Erinnerung zurück!

Ein Roman, der dich verstehen lassen wird, dass alles, was dir bisher im Leben widerfahren ist, von großer Bedeutsamkeit ist – denn jede Erfahrung, ob gut oder schlecht, macht aus dir diesen einen wunderbaren einzigartigen Menschen, der du heute bist.

 

 

Bild von Msporch auf Pixabay
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